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Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Autoren: Melisse J. Rose
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Rezepturen, sondern Träume verkauften.«
    »Unsinn«, sagte sein Vater. »Wir sind Handwerker, keine Poeten. Unsere Aufgabe ist es, den Gestank der Straße zu übertönen, die Ausdünstungen des Körpers zu verbergen und die Sinne von allen Gerüchen abzuschirmen, die abstoßend, krankhaft und lästig sind.«
    »Nein, Vater, Sie irren sich. Was wir tun, ist im Kern die pure Poesie.«
    Trotz allem, was sein Vater sagte, war L’Étoile immer bei der Überzeugung geblieben, dass Gerüche mehr bedeuten, dass sie einen tieferen Sinn haben konnten. Genau deshalb war er nach Ägypten gekommen. Und er hatte sich bestätigt gefunden.Im Alten Ägypten waren die Parfümeure hochangesehene Priester gewesen. Ihre Duftkreationen hatten in den religiösen Bräuchen eine tragende Rolle gespielt. Mit dem Dunst ihrer Rauchwerke reisten die Seelen ins Totenreich.
    Der General trat an den Sarkophag heran, um sich die Mumien näher anzusehen. Als er sich zu ihnen hinunterbeugte, raunte ihm Abu eine Warnung zu, doch Napoleon wischte sie mit einer Handbewegung beiseite, griff in den Sarg und nahm ein kleines Tongefäß aus der Hand des mumifizierten Mannes. »Erstaunlich«, sagte er und griff nach einem weiteren, identischen Tiegel, den die Frau umklammert hielt. »Beide hatten dieselben Gefäße bei sich.« Er öffnete erst einen, dann den zweiten kleinen Tiegel. Ein Augenblick verstrich. Der General schnupperte. Dann hielt er sich ein Gefäß nach dem anderen unter die Nase und roch daran.
    »Es scheint etwas Parfümiertes darin zu sein, L’Étoile«, sagte er und reichte dem Parfümeur einen der Tiegel. »Vielleicht eine Pomade? Kennen Sie den Geruch?«
    Das Gefäß war so klein, dass es in seine Handfläche passte. Es war weiß lasiert, mit korallenroten und türkisfarbenen Mustern verziert, und Schriftzeichen säumten den Bauch des Tiegels. Die verlorene Sprache der Vergangenheit konnte niemand entziffern. Doch ihr Duft berührte L’Étoile unmittelbar. Er fuhr mit den Fingern über die wächserne Oberfläche. Das hier war also der Ursprung jenes Geruchs, der ihn in die Sargkammer gelockt hatte.
    L’Étoile hatte keine übernatürlichen Talente. Das Einzige, worauf er ungewöhnlich sensibel reagierte, waren Gerüche. Deshalb hatte er zehn Jahre zuvor Marie-Geneviève und Paris hinter sich gelassen, um in der trockenen Hitze Ägyptens die magischen, faszinierenden Duftmixturen dieser altehrwürdigen Kultur kennenzulernen. Doch nichts, was er in all den Jahren entdeckt hatte, ähnelte dem, was er jetzt in Händen hielt.
    Aus der Nähe war der Duft satt und üppig, und L’Étoile fühlte sich wie auf Schwingen von ihm davongetragen – fort von der Gruft, hinaus in die Weite, in die sternenklare Nacht, zu einem Flussufer, wo er den Wind und die erfrischende Kühle spürte.
    Irgendetwas geschah mit ihm. Er wusste, wer er war: Giles L’Étoile, Sohn des renommiertesten Parfümeurs und Handschuhherstellers von ganz Paris. Und wo er war: mit Napoleon Bonaparte in einer unterirdischen Grabkammer in Alexandria. Doch zugleich war er anderswo, am Ufer eines breiten, grünen Stroms, wo er neben einer Frau im Schatten von Dattelpalmen saß. Er spürte, dass er diese Frau schon lange kannte, doch zugleich war sie ihm völlig fremd.
    Die Frau war wunderschön. Sie war groß, schlank und hatte dichtes schwarzes Haar und dunkle Augen, in denen Tränen glänzten. Ihr in ein dünnes Baumwollkleid gehüllter Körper wurde von einem Schluchzen geschüttelt, das ihm schier das Herz zerriss. Er begriff instinktiv, dass ihr Schmerz von etwas herrührte, das er selbst getan oder unterlassen hatte, und dass er allein diesen Schmerz stillen konnte. Er musste ein Opfer bringen. Tat er es nicht, dann würde ihr Schicksal ihn auf ewig verfolgen.
    Er nahm den Leinenumhang ab, den er über seinem Rock trug, und tauchte einen Zipfel davon ins Wasser, um ihre Tränen fortzuwischen. Als er sich über den Fluss beugte, sah er sein Spiegelbild. Er erblickte einen Unbekannten, einen jüngeren Mann von höchstens fünfundzwanzig Jahren. Die Haut des Mannes war goldfarben getönt, dunkler als L’Étoiles. Er hatte schärfere, klarere Gesichtszüge und schwarzbraune statt blaue Augen.
    »Schauen Sie«, sagte aus weiter Ferne eine Stimme, »hier ist auch ein Papyrus.«
    L’Étoile begriff vage, dass es Abus Stimme sein musste, dochzugleich vernahm er sich nähernde Pferdehufe. Die Frau an seiner Seite hörte sie ebenfalls; Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Er
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