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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund
Autoren: Susanne Gerdom
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der wie ein großes keltisches Kreuz geformt war. Daran hing die Tafel mit den Öffnungszeiten. Heute war Donnerstag, und Donnerstagnachmittag hatte das Museum Ruhetag. Pech gehabt.
    Ich stand noch kurz vor der Tür und blickte unentschlossen die Straße entlang. Ich könnte einen Abstecher zum Hafen machen und dort ein paar Fotos schießen. Ich hatte Lust, Möwenaugen zu malen.
    »Silbermöwen, Mantelmöwen, Lachmöwen«, sagte ich vor mich hin und sah noch einmal auf die Tafel mit den Öffnungszeiten.
    Ich drehte mich um und hätte beinahe eine alte Frau umgerannt, die wie aus dem Erdboden gewachsen plötzlich hinter mir stand. Sie trug Jeans und eine Steppjacke und stützte sich auf einen Stock, der kräftig genug aussah, um jemandem den Schädel einzuschlagen. Ihr Gesicht war so verrunzelt wie eine Rosine, mit Augen, die mich misstrauisch und so scharf anblickten, als hätte ich ihr etwas gestohlen.
    » Verzeihung, Madam«, sagte ich hastig. »Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht wehgetan.« Ich hatte sie nicht einmal berührt, aber alte Leute waren doch so schreckhaft. Meine Großmutter hatte immer gerufen: »Hu, es reißt mich«, wenn sie sich über etwas erschreckte, und diese Frau hier war noch älter als meine Großmutter – jedenfalls sah sie so aus.
    Sie antwortete mir nicht – vielleicht war sie schwerhörig? –, aber sie streckte die Hand aus und griff nach meinem Arm. Ihre Finger schlossen sich wie Klammern um mein Handgelenk. »Junge«, sagte sie. »Junge, kenne ich dich nicht?« Ihre Stimme erinnerte mich an dunklen Honig. Sie klang viel jünger, als sie aussah. Ich musste die alte Frau ziemlich blöd angeglotzt haben, denn ihr Griff verstärkte sich und sie schüttelte ungeduldig meinen Arm. »Sag schon. Kennen wir uns?«
    »Nein, Madam«, antwortete ich und versuchte, mein Handgelenk aus ihren Fingern zu befreien. Erstaunlich, wie stark sie war, wo sie doch so hinfällig wirkte wie ein morscher Baum. »Nein, ich wüsste nicht ... Sie müssen mich verwechseln.«
    Sie ließ mich nicht los. Ihre Finger bohrten sich in meinen Arm, und sie starrte mich so eindringlich an, dass ich Angst bekommen hätte, wenn wir hier nicht im hellen Sonnenschein mitten auf der Straße gestanden hätten. Ich hörte Töpfe klappern und eine Frauenstimme zu der Musik aus einem Radio singen, ein Kind plärrte und auf der Hauptstraße hupte ein Auto.
    »Lassen Sie mich bitte los«, sagte ich etwas weniger höflich als vorher und riss an meinem Arm. Ihre Finger rutschten ab und schnappten noch nach meinem Ärmel, aber ich hatte schnell einen Satz zurück gemacht und nickte der alten Frau aus sicherer Entfernung zu. »Alles in Ordnung, Madam«, sagte ich besänfti g end. »Sie haben mich verwechselt. Macht nichts. Guten Tag.« Ich drehte mich um und wäre am liebsten gerannt, aber das wäre doch zu lächerlich gewesen, also ging ich betont langsam davon.
    Nach ein paar Schritten drehte ich mich noch einmal zu ihr um, aber die Straße war leer, die alte Frau war fort. Ich blieb stehen. Wohin konnte sie so schnell verschwunden sein? Ich fühlte eine Gänsehaut über meine Arme kriechen. Also war auch sie einer meiner Geister? Wuchsen die inzwischen wie Pilze aus dem Boden? Mit Gino/Jeannie und dem Roshi hatte ich mich ganz bequem eingerichtet, sie waren fast so etwas wie Freunde oder Familienmitglieder geworden. Der Joker war ein anderer Fall, aber auch an ihn war ich inzwischen halbwegs gewöhnt. Die drei begleiteten mich jetzt schon seit einem Jahr, und es war nie ein neuer Lar oder Lemur dazugekommen. Und heute gleich zwei von der Sorte? Was hatte das zu bedeuten?
    Ich schüttelte mich wie eine Katze, die einen Wassertropfen abbekommen hat. Die Sonne schien, ich hörte das Rauschen des Atlantiks und die Schreie der Möwen, alles war gut. Das sagte ich wie ein Mantra vor mich hin, als ich zum Hafen hinunterging. »Alles ist gut. Alles ist gut.«
    Natürlich war es das nicht, aber im meiner Lage lernt man es besser schnell, sich selbst zu belügen – allzu viel Zeit blieb mir ja nicht mehr.
    Mein Vater saß auf der Bank im Garten, als ich nach Hause kam. Er hatte die Beine hochgelegt und hielt sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne. Der Wind war noch kalt, aber in der Sonne war es schon gut auszuhalten.
    Ich wollte ihn nicht stören. Er dachte wahrscheinlich gerade ü ber eine komplizierte Stelle in seinem Manuskript nach oder wollte einfach mal gar nicht denken und machte eine Pause. Er sah müde aus. Eigentlich sah
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