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Das Haus am Abgrund

Das Haus am Abgrund

Titel: Das Haus am Abgrund
Autoren: Susanne Gerdom
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Dinge?«
    »Es ist alles in Ordnung, Jonty«, sagte ich. »Wirklich. Keine Halluzinationen mehr.« Das war gelogen, aber ich wollte nicht, dass er sich Sorgen um mich machte. Noch mehr Sorgen als sowieso schon.
    Jonathan nickte nach einer Weile, aber seine Stirn blieb gerunzelt. Er legte mir den Arm um die Schulter und wir gingen den Rest des Weges so nebeneinander her. Im Augenwinkel konnte ich Moriartys dürre, düstere Gestalt erkennen, der auf seinen dünnen Beinen wie eine seltsame Spinne hinter uns herschlich.
    » Herbei, herbei! Herein, herein! Ihr schlotternden Lemuren«, sagte ich leise vor mich hin.
    Jonathan warf mir einen schrägen Blick zu. »Seit wann zitierst du Goethe, mein Junge?«
    »Seit Toby mit mir den Faust gelesen hat.« Ich schnitt eine Grimasse. Toby liebte Goethe. Er las ihn im Original und zitierte ihn ständig. Ich sprach inzwischen passabel Deutsch, jedenfalls hatte ich gute Noten im Zeugnis. Nicht, dass das noch irgendeine Bedeutung für mein Leben gehabt hätte.
    Harmony’s Garden hatte sich kaum verändert. Der freundlich eingerichtete Tea Room erstreckte sich von der Straßenseite bis nach hinten hinaus, mit Blick auf einen Garten, in dem Palmen, Kamelien und Rhododendren wuchsen. Es sah aus wie in Südfrankreich.
    Aber Jonathan zog mich weiter, in den nebenan liegenden Teil des Gebäudes, der den Ausschank der Brauerei beherbergte. Die Einrichtung war deutlich rustikaler als das pastellfarben geblümte und gerüschte Dekor im Tea Room. Hier herrschten dunkle Holztöne und satte Farben vor, die Tische waren blank gescheuert und die Stühle und Bänke bequem, aber ungepolstert.
    Jonathan ging zum Tresen, um unsere Getränke und die Pastries zu bestellen. Ich schob mich auf eine Bank am offenen Fenster und streckte die Füße aus. Am liebsten hätte ich meine Beine auf die Bank gelegt, aber dann hätte ich Moriarty berühren müssen, der sich neben mich gesetzt hatte. Er nahm seinen Zylinder ab, strich das schüttere dunkle Haar glatt und faltete die Hände auf der Tischplatte. Sein Blick wanderte durch den Raum, ohne lange an einer Sache hängen zu bleiben. Ich musterte sein adlernasiges Profil und seufzte.
    » Lar oder Lemur?«, fragte ich ihn impulsiv.
    Er wandte langsam den Kopf und sah mich an. Ich hatte noch nie zuvor solche Augen gesehen. Sie waren durchsichtig, ich konnte die Blutgefäße erkennen und den Ansatz des Sehnervs. Seine Pupille war winzig klein, obwohl es dämmrig im Raum war. Ich schauderte. »Lemur«, beantwortete ich meine eigene Frage. Kein wohlmeinender Schutzgeist, oh nein! Er gehörte zur Sorte des Jokers.
    Moriarty legte den Kopf ein wenig schief und strich sich über die Lippen, die blass waren, blutleer wie die einer Leiche. »Nein, ich glaube nicht«, antwortete er zögernd. »Nein, nein. Ich will Ihnen nichts Böses, Master Adrian.«
    Ich glaubte ihm nicht, aber jetzt kam Jonathan zurück und stellte Gläser und Teller auf den Tisch. »Ich habe einen solchen Hunger«, sagte er aus tiefster Seele und ließ sich mir gegenüber auf einen Stuhl fallen.
    Ich nahm meinen Teller entgegen und stach mit der Gabel in die dampfende Pastete.
    Es roch nach gedünsteten Zwiebeln, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Einige Minuten lang vergaß ich über dem Kauen, Schmecken und Hinunterschlucken vollkommen den düsteren Begleiter an meiner Seite. Die Füllung der Pastete war gut gewürzt und schmeckte tausendmal besser als alles, was Jonathan uns in den letzten Tagen vorgesetzt hatte. Die Cola in dem beschlagenen Glas war eiskalt und passte hervorragend zu dem kräftigen Essen.
    »Wow«, sagte ich irgendwann und schob den blank geputzten Teller weg. »Ich hab zu viel gegessen. Aber es war zu lecker, um aufzuhören.«
    J onathan, der beinahe gleichzeitig mit mir über die Ziellinie gegangen war, lächelte ein wenig angestrengt. »Ich quäle uns nicht länger mit meinen Kochkünsten«, sagte er. »Lizzie hört sich im Dorf nach einer Haushälterin für uns um.«
    Er tat mir leid. Er war genauso wenig ein Koch wie mein Vater, aber immerhin hatte er sich die Mühe gemacht und zumindest versucht, uns mit Essen zu versorgen. Toby dagegen schaltete auf stur, wenn es um Hausarbeit ging. Er konnte sich, wenn es sein musste, wochenlang von Brot, Kaffee und Äpfeln ernähren.
    »Toby meinte, wir wären skorbutgefährdet, wenn ich weiter die Küche übernehme«, fuhr Jonathan fort und leerte sein Bierglas. »Ganz ehrlich, ich schlage mich nicht darum. Meine Arbeit bleibt ja
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