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Das gruene Gewissen

Das gruene Gewissen

Titel: Das gruene Gewissen
Autoren: Andreas Moeller
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Bedürfnisse. So ist es überall auf der Welt, wo in naher Zukunft die Hälfte der Menschen in Städten mit Mobilität und Kommunikation leben wird.
    Es geht uns schwer über die Lippen, und doch ist die auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftsweise bislang die einzig erprobte Rückversicherung dafür, neue, zunehmend effizienzorientierte Pfade zu finden. Die Dynamik und Heimatlosigkeit der modernen Welt und ihrer Personen- und Warenströme sind zugleich die Geburtsstunde eines konservativen Lebensgefühls, das für Autarkie und Selbstversorgung wirbt und für das aktuelle Transformationsprozesse wie die Energiewende wie ein Ventil wirken. In einer eng vernetzten Welt blicken wir immer öfter vor die eigene Haustür, in die eigene Region, die grüner, schöner, verantwortlicher werden soll, obwohl das Gegenteil vonnöten wäre, die globalen Verflechtungen zu verinnerlichen.
    Insofern gibt es einen Zusammenhang zwischen der dezentralen Energieversorgung, dem „Cocooning“ und „Urban Gardening“, der Generation Landlustund der Sehnsucht nach Heimat und Identität in einer volatilen Welt. Er besteht im pauschalenWunsch nach Sicherheit, Kontrolle, Selbstbestimmtheit. Dieser Wunsch führt zu Etiketten und Botschaften, die Orientierung im Unübersichtlichen verheißen. Wo früher die Konsumbewegung des „No Logo“ Anhänger fand, versuchen sich größer werdende Schichten durch den Kauf von nachhaltigen Produkten emotional zu entlasten. Sie sind auf einer Sinn- und Wertsuche, die sich an das klammert, was selbst im Kaufhausregal als unhintergehbar gilt und Konsens verspricht: die Natur.
    Die Sehnsucht nach Natur, die der Ausgangspunkt dieses Buches war, meint also sehr oft nicht die „echte“ Natur, sondern einen gesellschaftlichen Prozess. Denn die Natur – augenfällig genug – denkt nicht in moralischen Kategorien, sie unterscheidet nicht in Gut und Böse, nicht in Wertvoll oder Fragwürdig, nicht in Überschuss und Verzicht, sie kennt weder ungewollte Dynamik noch die Entschleunigung als Antwort darauf. Nur wir tun dies. 136
    Wer sich einmal die Mühe und auch den Spaß macht, still auf einem Fleck im Wald zu sitzen und den Boden, das Gras oder Moos zu beobachten, wird feststellen, dass es keine „Ruhe“ oder „Kontinuität“ in der Natur gibt. Das permanente Verdrängen und Verändern, der begrifflich nicht unproblematische Kampf ums Überleben, aber auch eine ungeheure Plastizität hinsichtlich der Veränderungen, nicht das Statische wie beim Anblick von Sand am Meer oder unbewachsenen Gesteinen: Das alles wird im Erblühen der Pflanzen, den Häutungen von Schlangen, den Bewegungen der Ameisen und Käfer am Boden offenbar.
    Ich habe oft auf dem Boden gesessen, ohne zu wissen warum. Mein Vater ging regelmäßig mit mir in den Wald, weil er Abstand brauchte. Ich schien ihn dabei nicht zu stören. Er wusste nichts von einer Natursprache oder der Zeichenlehre einiger in sich gekehrter Dichter. Und doch lebte in ihm der Gedanke eines aufmerksamen Beobachtens selbst kleinster Veränderungen an Baumstämmen oder auf Wegen fort. So saßen wir still und lauschten in den Wald hinein. Manchmal stand mein Vater auf und richtete seine Nase nach dem Wind aus. Er sagte nicht mehr als ein Wort:„Aas“. Dann folgte er seinem Geruchssinn wie ein Jagdhund und fand ein verendetes Tier, das sich zum Sterben in eine von Büschen umwachsene Erdmulde gelegt hatte, geschützt vor den Blicken der Vögel und Füchse.
    Ich war mehrfach dabei, als wir die Äste zur Seite drückten und ein totes Reh sahen, das Wunden aufwies oder auch vollkommen unversehrt war. Es war beängstigend und anziehend zugleich, die Schönheit des Tieres aus nächster Nähe sehen zu können. Wir meldeten den Fund jedes Mal im Dorf. Dort erzählte mir der Bauer, der neben Lämmern auch Schweine unter freiem Himmel hielt, von den Saat- und Nebelkrähen, vor denen ich mich in Acht zu nehmen hätte. Er lachte dazu unsentimental, und ich spürte den ernsten Blick meines Vaters. Für mich klang es wie eine Schreckensgeschichte aus dem Mittelalter, die mir noch lange nachging: Die Vögel hatten den Tieren gnadenlos und mit einer für mich verstörenden Brutalität die Augen ausgehackt, worauf diese erst minutenlang umherirrten und anschließend qualvoll verendeten.
Gegen die Welt
    Man muss sich angesichts solcher Kindheitserinnerungen nicht in die wissenschaftliche Klausur mit dem Thema Natur begeben, um zu sagen, dass wir widernatürlich denken, sobald wir das
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