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Das Große Spiel

Das Große Spiel

Titel: Das Große Spiel
Autoren: Claude Cueni
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aber nicht lieben. Die Liebe tauge nicht zum Überleben. Nur das Geld.«
    William zuckte die Schulter. »Denkst du, dass sich unsere Eltern geliebt haben?«
    John warf seinem Bruder einen raschen Blick zu. Wahrscheinlich war ihm gar nicht aufgefallen, dass er in der Vergangenheitsform gesprochen hatte.
    »Sie haben sich miteinander verbündet. Gegen den Tod, gegen die Unbilden des Schicksals. Sie waren Verbündete. Vielleicht ist das sogar mehr als Liebe.«
    »Und wieso öffnest du den Brief nicht?«
    »Er ist für Madam, deshalb öffne ich ihn nicht.«
    »Du lügst«, sagte William leise, »ich habe dich vom Turmfenster aus beobachtet. Der eine Brief ist für dich. Ich war dabei, als Vater die beiden Briefe geschrieben hat. Er sagte...« Williams Stimme versagte. Beschämt senkte er den Kopf.
    John schloss die Augen. Der Schmerz schnürte ihm die Kehle zu. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Nach einer Weile schaute er zum Himmel empor und sah all die großen Wolken, die sich wie weiße Giganten über Lauriston Castle hinwegwälzten. Es war, als würde die Seele aus den Gemäuern von Lauriston Castle entweichen und nur noch einen Haufen Steint hinterlassen. Plötzlich schien alles so groß um ihn herum. Er kam sich vor wie die kleine Ameise, die sein Bruder im Spalt der aufgebrochenen Rinde gejagt hatte. Plötzlich fühlte er sich so allein auf Lauriston Castle. Was hätte er darum gegeben, noch einmal mit seinem Vater sprechen zu können. In diesem Moment hörte John, wie William laut aufschluchzte. Er nahm seinen Bruder sanft in den Arm. William ließ es geschehen.
    »John, du weinst ja!«, jammerte William, der zu seinem älteren Bruder aufsah. Und tatsächlich rannen jetzt Tränen über Johns versteinerte Miene.
    »Das ist einfach so«, sagte John leise, »wie ein Fass, das das Schicksal angestochen hat. Und irgendwann ist es leer.«
    »Und was geschieht dann mit dem Fass?«, fragte William. John gab keine Antwort. In der Ferne hörte man das Nahen einer Kutsche.
    Als Madam Law auf den Hof fuhr, fiel ihr Blick sofort auf ihre beiden Jungen, und wie sie dort auf dem umgestürzten Baumstamm beisammensaßen, war ihr sofort klar, was geschehen war. Nachdem die Kutsche gehalten hatte, half der Kutscher ihr beim Aussteigen. Janine kam aus dem Haus gerannt und warf sich heulend in die Arme von Madam. Und Madam dachte an all die Kinder, die sie in den letzten Jahren verloren hatte, und an ihren Ehemann William Law, der ihr immer treu zur Seite gestanden hatte, der sie stets geehrt und geachtet hatte, und sie dachte daran, dass er ein guter Ehemann gewesen war, und als sie hochsah und die monumentale Fassade von Lauriston Castle erblickte, fühlte sie eine unsägliche Müdigkeit über sich hereinbrechen. Sie sah ihre beiden Jungen, wie sie hilflos zu ihr aufschauten. Sie musste es durchstehen, den Kindern zuliebe. Noch konnte sie nicht gehen. Sie wurde noch gebraucht in dieser Welt. Noch ein paar Jahre. Dann wären William und John alt genug, um für ihre kleinen Schwestern zu sorgen. Dann würde sie gehen können, endlich, heim zu ihrem Mann. Heftige Krämpfe erfassten ihren Körper. Sie weinte lautlos, während sie diesen grausamen Gott verdammte, der weder Liebe noch Mitleid kannte und sich an dem Leid der Menschen weidete da unten auf der elenden Erde, einer Erde, die von blutigen Kriegen gepflügt, von Pestepidemien gedüngt und von Sintfluten gewässert wurde. Und plötzlich empfand sie unbändigen Zorn gegen William Law, der sich auf einem Pariser Operationstisch so einfach aus diesem Elend davongestohlen hatte.
     
    Eine Krähenschar zog über Lauriston Castle. Ein Hund streunte über den leeren Vorplatz. Das Anwesen wirkte leer, wie ausgestorben. Irgendwo hallte eine Stimme wider, tief im Innern der Gemäuer. Dann war es wieder still. Den Steinsims vor dem Turmzimmer hatte ein Krähenpaar für sich eingenommen. Das Zimmer wurde nicht mehr benutzt.
     
    Friedhöfe waren Stätten des Trostes für Jean Law. Die Gräber sprachen zu ihr in einer klaren Sprache: Schau her, wir sind schon hier. Wir haben es hinter uns. Der Tod mag ungerecht sein, aber es ist, wie es ist. Nimm es hin oder geh vor Kummer zugrunde. Was einmal war, ist für immer vorbei.
    Jean Law ließ ihren Blick über das Gräberfeld schweifen. Sie weinte nicht mehr. Sie fühlte sich nur noch schwach und müde. Unendlich müde. Ihr ganzer Körper schmerzte. Jeder Muskel schien verhärtet, jedes Gelenk verrenkt, jedes Organ entzündet. Der
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