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Das Große Spiel

Das Große Spiel

Titel: Das Große Spiel
Autoren: Claude Cueni
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trockene Mund, der Kloß im Hals, die Faust im Magen. Weinen, ohne noch Tränen zu vergießen. Weinen, ohne dass die Lippen bebten. Sie kannte diese Gefühle. Sie wusste, dass sie es überleben würde. Aber mehr würde sie nicht verkraften können. Und auch das dachte sie jedes Mal. Und das Schicksal legte noch einen Scheit nach und ließ die Flamme des Schmerzes noch stärker lodern.
    Sie ertrug es. Sie ertrug es mit Würde. Sie wusste, dass sie das, was geschehen war, nicht ändern konnte. Sie würde sich ändern müssen, um mit der neuen Situation fertig zu werden. Sie versuchte, an andere Dinge zu denken. An einfache Dinge. Sie brauchten noch Obst für den Winter. Und den umgestürzten Baum draußen im Hof wollte sie zersägen, spalten und im Trockenen stapeln lassen. Für den Winter.
    William klammerte sich mit beiden Händen an ihrem Arm fest. Er war mit seinen elf Jahren noch ein richtiges Kind. John hingegen wirkte sehr gefasst. Als sei er sich bewusst, dass ihm das Schicksal über Nacht eine neue Rolle zugeteilt hatte, stützte er seine Mutter und küsste sie jetzt sanft auf die Schläfe. Liebevoll hielt er ihre rechte Hand, als könne er auf diese Weise etwas von seiner ungestümen Energie auf die leidende Witwe übertragen.
    Es waren viele Menschen gekommen, um William Law, dem Geldwechsler und Münzprüfer der Stadt Edinburgh, die letzte Reverenz zu erweisen, angesehene Bürger und Zunftmeister, Vertreter des schottischen Parlaments sowie der schottischen Krone.
    Auf den Bäumen hinter den Friedhofsmauern saßen junge Burschen und reckten die Hälse. Man sah nicht alle Tage, dass der Tod so viele hübsche Gewänder auf einem Fleck vereinte, unc so manch einer der schaulustigen Bürger von Edinburgh erinnerte sich an jene noch viel pompösere Zeremonie vor vier Jahren, als James, der Bruder des Königs, der Duke of York, zum schottischen Vizekönig ernannt worden war. Mit ihm war die Stadt über Nacht in eine fremdartige neue Zeit katapultiert worden. Die engen Straßen waren jetzt des Nachts von Laternen hell erleuchtet. An allen Ecken und Enden gab es moderne Kaffeehäuser. Internationale Handelsorganisationen hatten sich hier niedergelassen. Prunkvolle Gärten und schlossartige, herrschaftliche Anwesen waren entstanden. William Law war zwar kein schottischer Vizekönig, doch sein Begräbnis wurde der grassierenden Prunksucht durchaus gerecht. Ein Strahl des sagenumwobenen Sonnenkönigs schien vom fernen Versailles bis nach Edinburgh zu leuchten. Und keinen der Anwesenden schien es groß zu stören, dass der Sarg leer war und der Leichnam in Paris ruhte.
    Der Bischof von Edinburgh hatte die Trauergemeinde, die sich in der Thronkirche versammelt hatte, ermahnt, nicht zu verzweifeln in dieser Stunde der Trauer, sondern auf Gottes Ratschluss zu vertrauen. John Law schüttelte bitter den Kopf, als sie jetzt vor der Grabstelle angekommen waren und der Sarg in die Grube gelassen wurde. Er fragte sich, worin der Sinn bestehen sollte, Menschen das Leben zu schenken und es ihnen dann auf so grausame Weise wieder zu nehmen. War Gott ein Kartenspieler, der mit dem Leben der Menschen nur spielte? War Gott ein Zyniker ohne Skrupel, ein Sadist ohne Moral? Oder doch bloß ein Sonnenkönig der Fantasie?
    John sah zu seiner Mutter. Jean Law hatte die Augen fest geschlossen und schien kaum zu atmen. Als der Sohn mit ihr ans Grab treten wollte, rührte sie sich nicht von der Stelle. Wie zur Salzsäule erstarrt, dachte John. Schließlich öffnete seine Mutter die Augen. Sie sah ins Leere und hauchte nur: »William.« Dann schwanden ihr die Sinne.
     
    Vier Tage später saß John Law zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder im ersten Stock des Hauses von Notar Roxburghe. John saß beim Fenster. Der Notar ließ auf sich warten. Sein Haus lag im Viertel der Zünfte, dort, wo die Kneipen und Spelunken sich aneinander reihten und die Geschäftsabschlüsse mit großen Bierhumpen besiegelt wurden. William Law hatte seinen Sohn John oft in diese Gegend mitgenommen. John hatte unzählige Gespräche und Verhandlungen miterlebt, und sein Vater hatte ihm anschließend erklärt, wieso er dieses gesagt und getan oder jenes verschwiegen habe. Sein Vater sagte stets, dass es zwei Geheimnisse gebe auf der Welt, das Geld und die Liebe.Von der Liebe verstehe er nicht viel, aber das Wesen des Geldes, das habe er begriffen. Geld, sagte er stets, sei nicht das, was die Leute dafür hielten, wenn sie das Metall einer Münze wogen. Was wäre
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