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Das Grauen in den Bergen

Das Grauen in den Bergen

Titel: Das Grauen in den Bergen
Autoren: Fred Ink
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aus der graubraunen Vegetation.
    »Meine Tiere sind’s«, verkündete Mrs. Pickman stolz. »‘s ist nich‘ viel, aber ‘s reicht für ein bisschen Milch und nen ordentlichen Braten an den Feiertagen.«
    Das Areal war dilettantisch eingezäunt. Einer gesunden Kuh wäre es ein Leichtes gewesen, die morsche Barriere zu durchbrechen. Doch diesen Tieren schien jeglicher Freiheitsdrang abhanden gekommen zu sein. Sie wirkten mehr tot als lebendig, während sie unendlich langsam wiederkäuten.
    Nachdem wir auch den Stall der Rinder hinter uns gelassen hatten, ragte es endlich vor uns auf. Es war weit weniger heruntergekommen als die übrigen Gebäude an der Bergflanke, hätte inmitten einer modernen und florierenden Stadt aber trotzdem wie eine Ruine gewirkt. Der weiße Anstrich war großflächig abgeblättert, einige der Regenrinnen hingen schief herab, mehrere Fensterscheiben mussten zu Bruch gegangen sein, denn sie waren durch Planen verhängt. Trotz allem erfasste mich ein warmes, angenehmes Gefühl. Ob es an der Entdeckung eines beinahe einladenden Ortes inmitten der deprimierenden Umgebung lag oder daran, dass sich tief in meinem Innern eine Erinnerung regte, vermochte ich nicht zu sagen. Jedenfalls ging mir beim Anblick meines Zuhauses sofort das Herz auf.
    »Boxer, du bleibst draußen!«, kommandierte Mrs. Pickman und sperrte die Tür auf.
    Es war kein großes Gebäude. Zwei Stockwerke mit jeweils zwei Räumen, Küche und Wohnbereich unten, Schlaf- und Badezimmer oben. Altmodische Öllampen hingen an Haken in den Wänden und vertrieben schon bald die schlimmsten Schatten.
    Mrs. Pickman kannte sich bestens aus. »Hab mich hier um alles gekümmert, seit Ihr Vater nich‘ mehr ist.« Sie zeigte mir, wo die Schlüssel hingen, an welchen Orten Töpfe, Teller, Tassen und sonstige Utensilien zu finden waren und entfachte ein Feuer in dem Kamin im Wohnzimmer. Ein beruhigend großer Holzvorrat lagerte unter einem Vordach neben dem Haus, sodass ich mich vor der kalten Jahreszeit nicht zu fürchten brauchte. Einer der Küchenschränke enthielt Konserven, die von Mrs. Pickman noch durch frisches Gemüse, einige Eier und etwas Fleisch aus ihrer privaten Speisekammer ergänzt wurden. Als sie mich umsorgt wusste, verabschiedete sie sich – allerdings nicht, ohne mir für den kommenden Tag ihren Besuch anzukündigen. »Dann können Se mir erzähl’n, ob Sie schon soweit sind – Se wissen schon.«
    Zahlreiche Falten verschoben sich, als sie mir von der Tür aus zuzwinkerte, dann war sie fort.
    Obwohl es recht spät war und ich einen langen und mehr als anstrengenden Tag hinter mir hatte, erfasste mich Tatendrang. Ich wirbelte durch die Zimmer, zog Planen von den Möbeln, untersuchte Schränke und Bücherregale und studierte die wenigen Bilder an den Wänden. Letztere waren insofern interessant, als sie sämtlich einen meiner Ahnen zeigten. Die Gesichtszüge der Coldlowes waren unverkennbar. Bei den ältesten der Bilder handelte es sich um Ölgemälde, an denen der Zahn der Zeit sichtlich genagt hatte, neuere Abbildungen waren Fotografien. Eine davon wagte es, nicht nur einen männlichen Coldlowe abzubilden, sondern auch dessen Partnerin. Es handelte sich um ein Paar, das mir von einer anderen Aufnahme noch gut im Gedächtnis haftete. Sie lächelten mich glücklich an. Hinter ihnen verlieh die tiefstehende Sonne einem mit Wurzeln überwucherten, südamerikanischen Tempel ein überirdisches Glühen. Neben der Frau steckte ein Spaten im Boden, mit dem sie wohl den Tonkrug ausgegraben hatte, den sie stolz auf dem Arm trug. Wie es schien, waren Vater und Mutter Abenteurer und Altertumsforscher gewesen – ob nun beruflich oder als Hobby, vermochte ich freilich nicht zu sagen. Ich spürte meine Augenwinkel feucht werden und strich wehmütig mit dem Finger über die beiden Gesichter. »Warum durfte ich nicht dabei sein?«, hauchte ich und wandte mich ab.
    Ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich nach Geheimnissen Ausschau halten wollte. Also suchte ich nach ungewöhnlichen Dingen – seltsame Gegenstände, Aufzeichnungen, Bücher … irgendetwas, das mir Aufschluss darüber geben konnte, was meine Familie über viele Generationen hinweg beschäftigt und ins Unglück gestürzt hatte.
    Schon bald musste ich mir eingestehen, dass das Haus in dieser Hinsicht nichts Brauchbares liefern würde. Ich spähte unter sämtliche Möbelstücke, nahm die Bilder von den Wänden und rollte die Teppiche zusammen, um vielleicht ein Versteck zu finden.
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