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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1
Autoren: Émile Zola
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ihren Überwürfen völlig von der Außenwelt abgeschlossen, im tiefen Schatten ihre heimliche Liebe spazierenführten.
    Die Pärchen der südfranzösischen Städte haben diese Art spazierenzugehen angenommen. Die Burschen und Mädchen aus dem Volk, die sich später einmal heiraten wollen und durchaus nichts dagegen haben, sich schon vorher ein wenig zu umarmen, wissen nicht, wohin sie sich flüchten könnten, um ungestört Küsse zu tauschen, ohne sich allzusehr dem Klatsch auszusetzen. Obwohl die Eltern ihren Kindern volle Freiheit lassen, so würde doch, wenn diese sich ein Zimmer mieteten, sich unter vier Augen träfen, das schon am nächsten Morgen in der ganzen Gegend Ärgernis erregen. Andrerseits haben sie keine Zeit, jeden Abend die Einsamkeit der freien Flur aufzusuchen. So haben sie einen Mittelweg gewählt: sie durchstreifen die Vorstädte, unbebautes Gelände, baumbestandene Straßen, alle Stellen, wo wenig Leute vorbeikommen und viele dunkle Schlupfwinkel sind. Und aus Vorsicht, weil hier jeder den andern kennt, tragen sie Sorge, sich unkenntlich zu machen, indem sie sich in jene weiten Mäntel hüllen, in denen eine ganze Familie Schutz fände. Die Eltern dulden diese Spaziergänge in der vollen Dunkelheit, die strenge Moral der Provinz regt sich anscheinend nicht darüber auf; es wird angenommen, daß sich die Liebespärchen weder länger in einer Ecke aufhalten noch sich draußen niederlassen, und das genügt, um die Besorgnis züchtiger Gemüter zu beruhigen. Beim Spazierengehen kann man sich höchstens küssen. Hie und da jedoch nimmt es einen schlimmen Ausgang mit einem Mädchen: da haben sich die Liebenden gesetzt.
    Es gibt in der Tat nichts Reizenderes als diese Liebespromenaden. Die ganze zärtliche, erfindungsreiche südliche Phantasie ist voll dabei beteiligt. Es ist ein richtiger Mummenschanz, reich an kleinen Freuden und auch den Ärmsten erreichbar. Die Liebende braucht nur den Mantel zu öffnen, schon hat sie einen Unterschlupf für ihren Liebsten bereit; sie verbirgt ihn an ihrem Herzen, in der Wärme ihrer Kleider genauso, wie die kleinen Bürgersfrauen ihre Liebhaber unter dem Bett oder im Schrank verbergen. Die verbotene Frucht bekommt hier einen besonders süßen Geschmack: man verzehrt sie unter freiem Himmel, inmitten gänzlich Unbeteiligter, auf dem Wege. Und was dabei so köstlich ist, was den getauschten Küssen eine so durchdringende Wonne verleiht, das muß wohl die Sicherheit sein, sich ungestraft vor aller Augen küssen zu können, ganze Abende in aller Öffentlichkeit Arm in Arm zuzubringen, ohne Gefahr zu laufen, daß man erkannt wird und die Leute mit dem Finger auf einen zeigen. Ein Liebespaar ist nichts als eine dunkle Masse, die jedem anderen Paar gleicht. Für den verspäteten Spaziergänger, der diese unförmigen Wesen nur undeutlich sich vorwärts bewegen sieht, ist es die Liebe, die vorübergeht, sonst nichts, die namenlose Liebe, die Liebe, die man ahnt und die man nicht kennt. Die Liebenden wissen sich wohlgeborgen, sie plaudern leise, sie fühlen sich daheim. Meist aber schweigen sie, wandern stundenlang ziellos dahin, glücklich darüber, sich in demselben Stück Stoff eng aneinandergeschmiegt zu fühlen. Das ist die höchste Wonne und höchste Keuschheit zugleich. Der große Übeltäter ist das Klima; es allein hat wohl ursprünglich die Liebenden dazu verlockt, Zuflucht in diesen Vorstadtwinkeln zu suchen. In einer warmen Sommernacht kann man keinen Gang durch Plassans machen, ohne in jedem Mauerschatten ein Pärchen im gemeinsamen Mantel anzutreffen. Manche Orte, wie zum Beispiel der SaintMittreHof, sind bevölkert von diesen dunklen Dominos3, die in der lauen, klaren Nacht langsam und geräuschlos aneinander vorbeistreifen; man könnte sie für Gäste eines geheimnisvollen Balls halten, den die Sterne für die Liebe der Armen veranstalten. Wenn es zu heiß ist und die jungen Mädchen nicht mehr die Pelisse tragen, schlagen sie einfach den obersten ihrer Röcke über den Kopf. Im Winter kümmern sich die Verliebtesten nicht einmal um den Frost. So dachten auch Silvère und Miette nicht daran, über die Kälte der Dezembernacht zu klagen, während sie die Straße nach Nizza hinunterwanderten.
    Die jungen Leute gingen durch die schlafende Vorstadt, ohne ein Wort zu wechseln. Aufs neue empfanden sie mit stummer Freude den molligen Zauber ihrer Umarmung. Ihre Herzen waren traurig; das Glück, so aneinandergeschmiegt dahinzuschreiten, war von der schmerzlichen
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