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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1
Autoren: Émile Zola
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betrachtet, häßlich gewesen. Doch in der reizvollen Rundung des Gesichts, im Spiel des sprudelnden Lebens bildeten diese Einzelzüge ein Ganzes von eigenartiger und ergreifender Schönheit. Wenn Miette lief, dabei den Kopf nach hinten warf und ihn weich auf die rechte Schulter neigte, glich sie mit ihrer von klingender Fröhlichkeit geschwellten Kehle, ihren Kinderpausbacken, den breiten, weißen Zähnen, den festgewundenen, krausen Haarsträhnen, die bei ihren Freudenausbrüchen wie ein Rebenkranz auf ihrem Nacken tanzten, einer antiken Bacchantin2. Und um in ihr die Jungfrau, das dreizehnjährige Mädchen, wiederzufinden, mußte man hören, wieviel Unschuld in ihrem kräftigen, klangvollen Frauenlachen lag, mußte vor allem die noch so kindliche Zartheit des Kinns, die weiche Reinheit der Schläfen beachten. In einem gewissen Licht nahm Miettes von der Sonne gebräuntes Gesicht eine bernsteinfarbene Tönung an. Ein ganz feiner dunkler Flaum lag bereits wie ein leichter Schatten über der Oberlippe. Die Arbeit hatte schon ein wenig ihre kleinen, kurzen Hände entstellt, die, wären sie müßig geblieben, reizende Patschhändchen eines Bürgermädchens abgegeben hätten.
    Miette und Silvère verharrten lange in Schweigen. Sie lasen gegenseitig in ihren sorgenschweren Gedanken. Und je mehr sie sich gemeinsam in die Furcht vor dem unbekannten Morgen versenkten, desto enger hielten sie einander umschlungen. Sie verstanden sich bis ins Innerste und fühlten das Vergebliche und Grausame jeder lauten Klage. Schließlich konnte sich das junge Mädchen jedoch nicht länger beherrschen; sie drohte zu ersticken und machte in einem einzigen Satz der gemeinsamen Beklemmung Luft.
    »Du kommst doch wieder, nicht wahr?« stammelte sie, den Mund nahe an Silvères Hals.
    Silvère antwortete nicht, denn die Kehle war ihm wie zugeschnürt und er fürchtete, in Tränen auszubrechen wie sie; er küßte sie auf die Wange wie ein Bruder, der keinen anderen Trost findet. Dann ließen sie einander los und fielen wieder in ihr Schweigen zurück.
    Nach einer kleinen Weile fuhr Miette fröstelnd zusammen. Sie lehnte sich nicht mehr an Silvères Schulter und fühlte ihren Körper zu Eis erstarren. Noch am Abend zuvor hätte sie nicht so geschaudert in diesem verlassenen Gang, auf diesem Grabstein, wo sie schon seit mehreren Jahren im Frieden der alten Toten so glücklich ihren Liebkosungen lebten.
    »Ich friere so«, sagte sie und zog die Kapuze ihrer Pelisse über den Kopf.
    »Wollen wir ein bißchen gehen?« fragte der junge Bursche. »Es ist noch nicht neun Uhr, wir können einen kleinen Spaziergang auf der Landstraße machen.«
    Miette dachte, daß sie vielleicht lange Zeit nicht mehr das Glück eines Zusammenseins, einer jener abendlichen Plaudereien haben würde, für die sie tagsüber lebte.
    »Ja, gehen wir«, sagte sie lebhaft, »gehen wir bis zur Mühle … Ich bliebe die ganze Nacht bei dir, wenn du es wolltest.«
    Sie verließen die Bank und verbargen sich im Schatten eines Bretterstapels. Hier schlug Miette ihre Pelisse auseinander, die in kleinem Rautenmuster gesteppt und mit blutrotem Baumwollstoff gefüttert war. Dann warf sie Silvère ein Ende ihres warmen, weiten Mantels um die Schultern, und so hüllte sie ihn ganz ein, nahm ihn mit sich, dicht an sie geschmiegt, unter das gleiche Kleidungsstück. Sie legten einander den Arm um die Taille, um nur noch eins zu sein. Als sie auf diese Weise zu einem einzigen Wesen verschmolzen waren, als sie sich so in die Falten des Mantels gewickelt hatten, daß sie jegliche menschliche Form verloren, setzten sie sich mit kleinen Schritten in Richtung der Landstraße in Bewegung, wobei sie unbesorgt die mondhellen, kahlen Flächen des Holzplatzes überquerten. Miette hatte Silvère eingehüllt, und er hatte das so selbstverständlich mit sich geschehen lassen, als habe ihnen der Mantel allabendlich diesen Dienst erwiesen.
    Die Straße nach Nizza, zu deren beiden Seiten die Vorstadt liegt, war im Jahre 1851 noch von hundertjährigen Ulmen gesäumt, alten Riesen, großartigen und noch immer kraftvollen Baumruinen, die vor einigen Jahren von der ordnungsliebenden Stadtverwaltung durch junge Platanen ersetzt worden sind. Als Silvère und Miette unter den Bäumen angelangt waren, deren ungeheure Äste der Mond auf dem Gehsteig abzeichnete, begegneten sie zwei oder dreimal dunklen Massen, die sich schweigend dicht an den Häusern entlangbewegten. Es waren, wie sie selbst, Liebespärchen, die, in
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