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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1
Autoren: Émile Zola
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Du mußt vernünftig sein. Ich schelte dich nicht … Ich möchte dich nur gern glücklicher sehen, und das hängt viel von dir selber ab.«
    Das Geschehen, dessen Erinnerung Miette eben so schmerzlich heraufbeschworen hatte, machte die beiden Liebenden für einige Minuten ganz traurig. Mit gesenktem Kopf gingen sie weiter, von ihren Gedanken verwirrt.
    »Hältst du mich eigentlich für soviel glücklicher als dich?« fragte Silvère, der unwillkürlich wieder auf das Gespräch zurückkam, nach einem Augenblick. »Was wäre wohl aus mir geworden, wenn meine Großmutter mich nicht zu sich genommen und großgezogen hätte? Außer Onkel Antoine, einem Arbeiter wie ich, der mir die Liebe zur Republik beigebracht hat, scheinen alle meine übrigen Verwandten Angst zu haben, daß ich sie schmutzig mache, wenn ich auch nur an ihnen vorbeigehe.« Er erregte sich beim Sprechen, blieb stehen und hielt Miette mitten auf der Straße zurück. »Gott ist mein Zeuge«, sprach er weiter, »daß ich niemanden beneide oder verabscheue. Aber wenn wir siegen, werde ich ihnen dennoch die Meinung sagen müssen, diesen feinen Herren. Onkel Antoine weiß allerlei von ihnen zu erzählen. Du wirst schon sehen, wenn wir zurückkommen. Wir alle werden dann frei und glücklich leben.«
    Miette zog ihn sanft weiter, und sie setzten ihren Weg fort.
    »Du hast deine Republik sehr lieb«, sagte die Kleine mit einem Versuch zu scherzen. »Hast du mich ebenso lieb wie sie?« Sie lachte, doch es war etwas Bitteres in ihrem Lachen. Vielleicht fand sie, daß sich Silvère recht leicht von ihr trennte, um in die weite Welt zu ziehen.
    Der junge Bursche antwortete ernst:
    »Du, du bist meine Frau. Ich habe dir mein ganzes Herz geschenkt. Versteh, ich liebe die Republik, weil ich dich Hebe. Wenn wir erst verheiratet sind, brauchen wir viel Glück. Und um eines Teils dieses Glücks willen gehe ich morgen früh fort … Du rätst mir doch nicht etwa, zu Hause zu bleiben?«
    »Nein!« rief das junge Mädchen lebhaft. »Ein Mann muß stark sein. Mut ist etwas Schönes! – Du mußt mir meine Eifersucht verzeihen! Ich möchte gern genauso stark sein wie du. Dann würdest du mich noch mehr lieben, nicht wahr?« Sie schwieg einen Augenblick, dann fügte sie mit reizender Lebhaftigkeit und Unschuld hinzu: »Ach! Wie gern ich dich umarmen und küssen werde, wenn du zurückkommst!«
    Dieser Aufschrei eines liebenden und tapferen Herzens rührte Silvère tief. Er nahm Miette in die Arme und küßte sie ein paarmal auf die Wangen. Lachend wehrte sich die Kleine ein bißchen. Und vor Ergriffenheit hatte sie die Augen voller Tränen.
    Rings um die Liebenden schlief die Landschaft im unendlichen Frieden der Winterkälte. Jetzt waren sie auf der Mitte des Abhangs angekommen. Links von ihnen lag ein ziemlich hoher Hügel, auf dessen Gipfel der Mond die Ruinen einer Windmühle mit silbernem Licht übergoß. Nur das Gehäuse, auf einer Seite ganz verfallen, war noch übriggeblieben. Das war das Ziel, das die beiden jungen Leute ihrem Spaziergang gesetzt hatten. Seit sie die Vorstadt hinter sich gelassen hatten, waren sie der Straße gefolgt, ohne auch nur einen einzigen Blick auf die Felder zu werfen, die sie durchwanderten. Nachdem Silvère Miette auf die Wangen geküßt hatte, hob er den Kopf. Jetzt sah er die Mühle.
    »Wie schnell wir gegangen sind!« rief er. »Da ist die Mühle. Es muß bald halb zehn sein, wir müssen umkehren.«
    Miette verzog schmollend den Mund.
    »Laß uns noch ein wenig gehen«, bat sie, »nur ein paar Schritte, bis zu dem kleinen Seitenweg … Wirklich, nur bis dahin.«
    Silvère lächelte und legte wieder den Arm um sie. Dann gingen sie weiter hügelabwärts. Sie fürchteten die Blicke Neugieriger nicht mehr; seit den letzten Häusern waren sie keiner Menschenseele mehr begegnet. Dennoch blieben sie noch in die große Pelisse gewickelt. Diese Pelisse, dieses gemeinsame Kleidungsstück, war wie ein natürliches Nest ihrer Liebe. Während so vieler glücklicher Abende hatte der Mantel sie geborgen. Wären sie frei nebeneinander hergegangen, so hätten sie sich in der weiten Landschaft ganz klein, ganz verloren gefühlt. Es beruhigte sie, machte sie in ihren eigenen Augen größer, wenn sie nur ein einziges Wesen bildeten. Aus den Falten der Pelisse heraus betrachteten sie die Felder, die sich zu beiden Seiten der Straße ausdehnten, ohne den schweren Druck zu empfinden, mit dem die weiten unempfindlichen Horizonte auf der menschlichen Zärtlichkeit
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