Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
lasten. Es war ihnen, als hätten sie ihr eigenes Haus mitgebracht, und sie genossen die Landschaft wie von einem Fenster aus. Sie liebten diese stille Einsamkeit, diese breiten Flächen schlafenden Lichts, dieses Stückchen Natur, verschwommen unter dem winterlichen, nächtlichen Leichentuch, und das ganze Tal, das sie zwar bezauberte, aber nicht mächtig genug war, sich zwischen ihre beiden eng aneinandergeschmiegten Herzen zu drängen.
    Übrigens hatte jedes zusammenhängende Gespräch zwischen ihnen aufgehört, sie sprachen nicht mehr von den andern, sie sprachen sogar nicht mehr von sich selbst. Sie lebten nur dem Augenblick, wechselten wohl einmal einen Händedruck, stießen beim Anblick eines Landschaftsausschnittes einen Ruf der Bewunderung aus, ließen auch einmal ein paar Worte fallen, ohne daß der andere wirklich zuhörte, waren wie benommen durch die Wärme ihrer Körper. Silvère vergaß seine Begeisterung für die Republik, Miette dachte nicht mehr daran, daß ihr Liebster sie in einer Stunde für lange, vielleicht für immer verlassen mußte. Wie an gewöhnlichen Tagen, an denen kein Abschied den Frieden ihres Beisammenseins störte, versanken sie in der Seligkeit ihrer Liebkosungen.
    Sie gingen immer noch weiter. Bald kamen sie an den kleinen Seitenweg, von dem Miette gesprochen hatte, einen schmalen Steig, der sich zwischen den Fluren hinzieht und zu einem Dorf am Ufer der Viorne führt. Aber sie hielten nicht an, sondern wanderten weiter talwärts und taten, als sähen sie den Pfad gar nicht, über den sie hatten nicht hinausgehen wollen. Erst einige Minuten später flüsterte Silvère:
    »Es muß schon recht spät sein, du wirst müde werden.«
    »Nein, ich versichere dir, ich bin gar nicht müde«, antwortete das junge Mädchen. »Ich könnte gut noch viele Meilen so weitergehen.« Dann fügte sie mit schmeichelnder Stimme hinzu: »Wie wär˜s, wenn wir noch zu den SainteClaireWiesen hinuntergingen? – Dort machen wir dann wirklich Schluß und kehren um.«
    Silvère, den der rhythmische Gang des Mädchens einwiegte und der mit offenen Augen wie in sanftem Halbschlaf dahinschritt, widersprach nicht. So glitten sie wieder in ihren verzückten Zustand zurück. Aus Angst vor dem Augenblick, in dem sie den Hang wieder hinansteigen mußten, verlangsamten sie ihre Schritte. Solange sie vorwärts gingen, meinten sie, für ewig in dieser Umarmung zu wandern, die sie eng miteinander verband. Der Rückweg bedeutete Trennung, den grausamen Abschied.
    Allmählich nahm das Gefälle der Straße ab. Im Talgrund ziehen sich Wiesen bis zur Viorne hin, die an der anderen Talseite am Fuß niedriger Hügel entlangfließt. Diese Wiesen, durch lebende Hecken von der Landstraße getrennt, sind die SainteClaireWiesen.
    »Ach was!« rief nun seinerseits Silvère, als er die ersten Grasflächen erblickte. »Wir gehen noch bis zur Brücke.«
    Miette lachte jubelnd auf, faßte den jungen Burschen um den Hals und küßte ihn schallend.
    Da, wo die Hecken anfangen, endete damals die lange Allee mit zwei Ulmen, zwei noch mächtigeren Riesen, als es die andern waren. Die Wiesen erstreckten sich in gleicher Höhe mit der Straße völlig baumlos wie ein breiter Streifen grünen Wollstoffs bis zu den Weiden und Birken am Fluß. Von den letzten Ulmen bis zur Brücke waren es übrigens kaum dreihundert Meter. Die Liebenden brauchten eine gute Viertelstunde, um diese Entfernung zurückzulegen. Schließlich waren sie trotz allen Zauderns auf der Brücke angelangt. Sie blieben stehen.
    Vor ihnen kletterte die Straße nach Nizza den gegenüberliegenden Talhang empor, aber sie konnten nur ein ziemlich kurzes Stück davon übersehen, denn sie macht einen halben Kilometer hinter der Brücke einen scharfen Knick und verliert sich dann zwischen bewaldeten Hügeln. Als sie sich umwandten, erblickten sie das andere, soeben von ihnen durchmessene Stück der Straße, das in gerader Linie von Plassans zur Viorne führt. Bei dem herrlichen winterlichen Mondschein glich es einem langen Silberband, das die Ulmenreihen mit zwei dunklen Borten einfaßten. Rechts und links bildeten die gepflügten Felder des Hanges zwei große, graue, verschwimmende Meere, durchschnitten von diesem Band, dieser weißen, hartgefrorenen, metallisch glänzenden Straße. Ganz oben, am Horizont, blitzten wie tanzende Funken einige noch hell erleuchtete Fenster der Vorstadt. Schritt für Schritt hatten sich Miette und Silvère eine gute Meile von dort entfernt. Sie warfen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher