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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor
Autoren: Sabine Wassermann
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wanken, hörte sie schreien, klagen und heulen. Aber es brannte nicht mehr. Der Boden glänzte von schlammiger Feuchtigkeit.
    »Hat … hat Regen das Feuer gelöscht?«, fragte sie, ohne recht zu wissen, wem die Frage galt. Sie glaubte zu spüren, dass Anschar dicht bei ihr war. Aber war es so? »Anschar! Wo bist du?«
    »Hier.«
    Sie lag in seinen Armen, jetzt wusste sie es. Was gegen ihren Rücken drückte, das war er. Erleichterung durchflutete sie. Noch begriff sie nicht ganz, was geschehen war. Bilder, Erinnerungen … ein sich befreiender Gott, ein sterbender Mann. Feuer. Wasser. Unendlich viel Wasser. Die brennende Brücke. Grazia tastete unter sich, erfühlte Nässe. Nun drang ihr auch der Gestank verbrannten Holzes in die Nase, und sie sah, dass die Brücke nur noch aus zwei Stümpfen bestand. Der auf dieser Seite war nass; der andere, der zu Heria gehörte, geschwärzt.
    »Anschar, sag nicht, dass ich das getan habe.«

    »Doch, hast du. Dein Wasser hat das Feuer aufgehalten.«
    Sie wollte widersprechen. Es musste die ganze Nacht angedauert haben, bis die Brücke von dem Feuer geteilt worden war. So lange hatte sie das Wasser fließen lassen? Nun, es musste ja so sein, sie sah das Ergebnis vor sich. Und in der Tat fühlte sie sich zerschlagen wie noch nie. Erschöpft drehte sie sich in Anschars Armen, bis sie das Gesicht an seine Brust betten konnte.
    »Geht es dir gut?«, flüsterte sie.
    »Ja. Mallayur ist tot. Geeryu auch, hoffe ich. Wir haben ein paar Wunden davongetragen.«
    Sie hob den Kopf. Wahrhaftig, sein Gesicht sah schlimm aus, voll von getrocknetem Blut. Aber was hatten sie erreicht? Das zu ergründen, war sie zu ermattet, und in ihren Schläfen pochte es. Die Schreie der klagenden Herscheden drangen schmerzhaft in ihre Ohren. »Bitte, Anschar, ich will hier weg. Irgendwo schlafen. Ein paar Tage, wenn ich darf.«
    »Ich bringe dich in den Palast.«
    Sie fühlte sich von ihm hochgehoben und sanft auf die Füße gestellt. Sein Arm lag um ihre Mitte. Stirnrunzelnd blickte sie um sich. Dutzende von Argaden hatten sie weitläufig umringt. An den Fenstern und auf den Terrassen des Palastes drängten sich weitere Zuschauer. Sie hatte das Gefühl, die ganze Stadt starre sie an. Still war es auf der argadischen Seite, nur hier und da hustete jemand verhalten. Fast glaubte sie, versteinerte Menschen vor sich zu sehen. Der Wind ließ ihre Gewänder und die vor Furcht zerzausten Haare aufflattern. Erst als Anschar einen Schritt auf sie zumachte, erwachten sie zum Leben. Sie wichen vor ihm zurück. Grazia klammerte sich müde an seine Schulter und machte sich bereit, mit seiner Unterstützung einen Fuß vor den nächsten zu setzen, da blieb er wieder stehen.
    Buyudrar tauchte aus der Menge auf, hinter sich Madyur-Meya,
und diesem folgte Schemgad. Beide Leibwächter traten zur Seite. Der König hatte nur einen schlichten Umhang umgeworfen und war barfuß. Das Entsetzen stand ihm noch ins Gesicht geschrieben. Aber er wirkte gefasst.
    »Bruder Benedikt!«, hauchte Grazia, als sie den Mönch im Gefolge des Königs sah. Er eilte zu ihr, nickte Anschar kurz zu und ergriff ihre freie Hand.
    »Ich hab’s in meiner Hütte nicht ausgehalten, nachdem ihr fort wart«, sagte er leise. »Dazu klang das, was ihr vorhattet, zu bedrohlich, und wie man sieht, war es das auch.«
    Eine Handbewegung des Meya hieß ihn, beiseitezutreten und zu schweigen. Madyur-Meya trat zu Anschar. Es musste ihn sehr verwundern, den Mann vor sich zu sehen, von dem er geglaubt hatte, er sei tot. Doch er sagte dazu nichts. Lange wanderte sein Blick über Anschars vielerlei Verletzungen. Dann nickte er.
    »Was ist mit meinem Bruder?«, fragte er tonlos.
    »Er ist tot«, antwortete Anschar. Die Augen des Königs weiteten sich, doch offenbar nicht wegen dieser Nachricht. Anschar machte zwei rasche Schritte vorwärts, bevor er sich mit Grazia in den Armen umdrehte. Sie musste einen Aufschrei unterdrücken, als sie am Rand der Schlucht, noch auf dem Rest der Brücke stehend, den Gott erblickte. Allerorten waren Laute des Staunens zu vernehmen, angesichts des nackten, strahlend schönen Mannes, dessen silberner Blick über die Menge schweifte, bis er schließlich an Anschar hängen blieb und sich zustimmend senkte.
    »Was bedeutet das?«, flüsterte Madyur.
    »Herr«, sagte Anschar, dessen Stimme ebenfalls belegt klang. »Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Ich bringe dir den Gott.«
    Madyur schlug Halt suchend auf die Schulter seines früheren Sklaven.
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