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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor
Autoren: Sabine Wassermann
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»Du meinst …«

    »Ja.«
    »Und was tue ich jetzt mit ihm?«
    »Das weiß ich nicht. Es scheint so, als habe er das Feuer drüben gelöscht. Aber ob er dir hilft, den Fluch aufzuhalten?«
    »Ich weiß inzwischen, dass es so nicht geht.« Langsam schritt der König auf den Gott zu und sah zu ihm hoch. Sein Adamsapfel bewegte sich, als kaue er an Worten, aber er sagte nichts. Der Gott erwiderte den Blick, und Grazia glaubte zu wissen, dass sie sich schweigend austauschten. Doch dann spürte sie unverhofft die Augen des Gottes auf sich ruhen. Er lächelte.
    »Warum ich?«, entschlüpfte ihr die Frage, die ihr so lange auf der Seele lastete.
    War denn meine Wahl falsch?
    Aber weshalb hast du mir die Fähigkeit geschenkt?, fragte sie ihn in Gedanken. Wozu ist es gut, dass ich Wasser machen kann?
    Du hast die Macht, dem zu helfen, der den Fluch beenden kann. Aber es steckt mehr dahinter als nur das .
    »Was …«, hob sie an, aber da warf er den Kopf in den Nacken. Eine gläsern schimmernde Säule schälte sich aus dem Nichts und begann ihn zu umschließen. Hinter sich hörte sie die Menschen erschrocken und ehrfurchtsvoll aufschreien. Niemand von ihnen hatte je das Tor gesehen.
    Nach wenigen Augenblicken hatte das Licht den Gott vollständig umschlossen. Es hob sich, schwebte einen Meter über dem Boden, dann zwei, und löste sich in nichts auf. Das Tor war fort, und mit ihm der Gott.
    Stille senkte sich wieder über die Menge, und auch von der herschedischen Seite war nichts mehr zu hören, als hätte das Erscheinen des Gottes die Klage beendet. Einige Argaden kauerten auf dem Boden und weinten leise. Madyur war
zurückgetreten. Er nickte, wie um sich selbst davon zu überzeugen, dass diese Begegnung wirklich stattgefunden hatte. Er straffte sich.
    »Wir müssen reden, Anschar. Über deine nächste Reise – in das Land deiner Mutter, nach Temenon.«
    Anschars Hand schloss sich so fest um Grazias, dass es wehtat. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. »Herr, nicht dass ich mich verweigern dürfte, aber vergisst du dabei nicht, dass ich schon einmal mit leeren Händen aus der Wüste zurückkam?«
    »Wieso leere Hände?« Madyurs Worte klangen scharf wie eh und je, er schien die Begegnung mit dem Gott bereits verdaut zu haben. »Du hast ihn mir doch gebracht? Ein bisschen spät, das gebe ich zu, nichtsdestotrotz warst du erfolgreich. Du gehörst wieder mir, und ich befehle es dir, so einfach ist das. Die Frau aus der fernen Welt, die Argad in der letzten Nacht gerettet hat – ist sie nicht wie ein Geschenk der Götter, um diesen Weg zurücklegen zu können?«
    Er deutete auf Grazia.
    »Und du, Frau, komm ja nicht auf die Idee, dich wieder zu sperren, verstanden?«
    Diese Ankündigung kam viel zu plötzlich, als dass sie dazu auch nur ein Wort hätte sagen können. Und lag es nicht auf der Hand? Nur mit ihrer Hilfe ließ sich die Strecke bewältigen. Ohne Zweifel war es dies, was der Gott gemeint hatte. Wie viele Kilometer waren es eigentlich? Sie hatte keine Ahnung, und ihr erster Impuls war in der Tat, sich zu verweigern. Aber war sie nach Argad zurückgekehrt, um das Land sterben zu lassen?
    Madyur wandte sich wieder an Anschar. »Dieser Auftrag gilt meinem besten Krieger, dem Ersten der Zehn. Deshalb wirst du mir gehorchen. Nicht jedoch, weil du mein Sklave bist. Das bist du nämlich nicht mehr.«

    »Hast du nicht eben gesagt …«
    »Ich lasse dich frei.«
    Anschar schwieg. Außer dass er die Brauen gehoben hatte, zeigte er keine Reaktion. Grazias Herz hüpfte vor Freude.
    »Warum?«, fragte er.
    »Vielleicht aus Dankbarkeit, oder aus Dummheit. Ja, ich weiß«, der Meya machte eine ungeduldige Handbewegung. »Sklaven sterben unfrei. Aber ich habe schon einen Sklaven zu einem der Zehn gemacht, und es war richtig. So viel ändert sich für dich dadurch ja nicht. Aber da du so wenig Freude zeigst – wir können es auch belassen, wie es ist!«
    »Ich nehme das Geschenk an«, sagte Anschar. »Du hast recht, ich diene dir weiterhin, aber der Unterschied ist durchaus fühlbar.«
    »Ach ja? Inwiefern?«
    »Ich weiß jetzt, dass ich keine Angst mehr haben muss, irgendwann wieder als Wetteinsatz dienen zu müssen, nur weil du dich reizen lässt.«
    Madyur schürzte die Lippen und nickte. »Der Tadel ist berechtigt. Und wie man sieht, zeitigt deine Freilassung schon ihre Auswirkungen, denn andernfalls würde ich dich vielleicht zu einem der Sklavenaufseher schicken, damit du dir ein paar Streiche auf den Rücken abholst.
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