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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor
Autoren: Sabine Wassermann
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kam. Was würde er denken, wenn er sah, wie sie sich zu dem Fremden hinabbeugte? Noch nie hatte sie einen nackten Mann leibhaftig vor Augen gehabt. Zögerlich ließ sie den Blick über seinen Körper gleiten und streckte die Hand aus. Sie wollte ihn an der Schulter berühren, nur ganz leicht, und fragen, wer er war und was ihn plagte.
    Kaum trafen ihre Fingerspitzen auf seine Haut, schlug ihr ein gewaltiger Wasserschwall ins Gesicht. Vor Schreck ließ sie den Schirm fallen und fuhr hoch.
    Nach Luft schnappend wischte sie sich über die Augen. Als sie wieder sehen konnte, war der Mann fort, offenbar in Windeseile zurück in die Havel gesprungen. Grazia zupfte an ihrem nassen Kleid und blickte ins Wasser. Nur wenige
Meter entfernt pulsierte unvermindert, wenn auch schwach, das Licht.
    Die Sache war ihr längst nicht mehr geheuer. Sie wollte zum Ufer zurück, drehte sich um – und erstarrte. Der Fremde stand unmittelbar vor ihr.
    Sie schluckte. Er war mehr als zwei Meter groß und vollkommen wie Apoll. Das braune Haar verlor sich hinter seinen Schultern. Sein Blick bohrte sich beinahe schmerzhaft in ihren Kopf. Diese Augen! Silbern glänzende Regenbogenhäute – so etwas gab es? Sie drehte sich weg, nestelte an ihrem durchnässten Hut und räusperte sich.
    »Würden Sie mich bitte ans Ufer lassen?«
    Verstand er sie überhaupt? Er sah nicht so aus, als sei er aus dieser Gegend. Eher wirkte er südländisch, mit seinem dunklen Haar und der sonnengebräunten Haut.
    »Wer sind Sie?«, fragte sie und wagte dabei einen zögerlichen Blick, jedoch vermied sie es, tiefer als bis zu seiner Taille zu schauen. Was für eine entsetzliche Situation. Schlimmer noch, sie verspürte den Wunsch, ihn zu berühren. Das durfte nicht sein. Aber vielleicht löste er sich ja wieder auf, diesmal endgültig, wenn sie es tat? Als spüre er ihre Verwirrung, streckte er eine Hand aus. Langsam trat sie näher, betete darum, dass niemand sie sah, und berührte seine Hand. Diesmal geschah nichts. Der Fremde schien den Atem anzuhalten und schloss die Augen, als sei er erschöpft. Das Regenwasser perlte von seinen Wimpern, lief an seinen Wangen herunter und aus seinen durchnässten Haarsträhnen.
    Er war schön.
    Und er hatte Angst.
    Fast vergaß sie, dass sie an ihm vorbeiwollte. Seine Lider hoben sich ein wenig, sein Blick, der wieder auf ihr lag, wurde starr. Sie wollte ihm die Hand entziehen. Mit einem Satz war er bei ihr, packte ihre Schultern. Rücklings drückte er sie auf
den Steg und warf sich auf sie. Entsetzt versuchte sie sich gegen ihn zu stemmen, aber er war schwer, und bevor sie schreien konnte, hatte er seine Lippen auf ihre gepresst.
    Wasser ergoss sich in ihre Kehle. Die weit aufgerissenen – und immer noch ängstlichen – Silberaugen dicht vor den ihren, begann er Unmengen von Wasser in sie hineinzupumpen. Sie glaubte zu ersticken, versuchte zu schlucken, doch es war so viel, dass sie einfach nur den Mund aufsperren konnte. Das Wasser durchflutete ihren ganzen Körper und floss aus ihrem Unterleib. Sie hing in den Armen des Fremden, der sie aus sich heraus mit Wasser füllte, und fühlte sich dennoch nicht bedroht, nur grenzenlos verwundert. Irgendwann schloss sie die Augen, bereit, in dieser Umarmung zu ertrinken. Da hörte es auf. Sie spuckte, schluckte ein letztes Mal und sah auf.
    Er stand über ihr. Sein Kopf war leicht vorgebeugt, die Brauen gerunzelt. Schuldbewusst sah er sie an. Ich wollte dich nicht erschrecken , schien er sagen zu wollen. Aber es war notwendig.
    Mit einer Hand an der geschwollenen Kehle, die andere das besudelte Kleid raffend, stemmte sie sich hoch. »Warum?«, flüsterte sie. Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie zuckte nicht zurück, als er ihre Wange berührte, mit einer Zärtlichkeit, die sie nicht erwartet hätte. Nicht nach dem, was er mit ihr getan hatte.
    Es war notwendig …
    Waren es seine Gedanken, die ihr da durch den Kopf gingen? Oder deutete sie nur seinen Blick?
    Verzeih mir.
    Warum? Er hatte sie nicht verletzt, nur zu Tode erschreckt. Jäh wandelte sich sein Blick. Die schönen Züge verzerrten sich vor Furcht. Er warf den Kopf zurück, als fahre ihm schmerzhaft etwas in den Körper, und verwandelte sich in Wasser, das nach allen Seiten stob und sie erneut überschüttete. Sie riss
die Hände hoch; zwischen den gespreizten Fingern sah sie ihn menschlich werden und dann zu Wasser, wieder und wieder, bis sie es nicht mehr ertrug und das Gesicht bedeckte.
    Er schrie in ihrem Kopf. Keuchend
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