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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor
Autoren: Sabine Wassermann
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sein müssen? Er schien bis zum Rand gefüllt gewesen zu sein, als habe ihre Mutter nie den Kamm eingetaucht. »Verstehe ich nicht«, murmelte sie und wollte ihn aufheben, was in Korsett und Tageskleid nicht einfach war, doch die Mutter nahm ihr den jetzt leeren Becher ab und stellte ihn auf die Frisierkommode.
    »Darum soll sich Adele kümmern. Eine Dame bückt sich nicht. Dreh dich um.«
    Grazia gehorchte und ließ sich Puder auf die sommersprossige Haut auftragen. Dann durfte sie endlich zurück in den
Salon. Hier hatte der Photograph inzwischen seine Apparatur aufgebaut und befestigte an der Rückseite ein schwarzes Tuch. Der Vater und Friedrich saßen immer noch am Teetisch, und immer noch war das Kästchen geschlossen.
    »Du wunderst dich sicherlich, dass ich damit nicht einfach ins Photographenatelier gegangen bin«, wandte sich Friedrich an sie.
    »Na, mir wundert det ooch«, warf der Photograph ein. »Det Ding wäre leichter zu tragen jewesen wie die janze Ausrüstung. Aber wat ditte kostet, soll mir nich jucken, Herr Mittenzwey.«
    Friedrich stand auf und winkte sie herbei. Da war plötzlich wieder das Feuer in seinem Blick, doch Grazia wusste nicht, ob es nun an ihr lag oder jenem ominösen Fund. »Grazia, du kennst gewiss das Bild von Sophia Schliemann, wie sie das Geschmeide aus Troja trägt?«
    Das kannte sie natürlich, sie hatte ja Schliemanns Biographie gelesen, darin war die Photographie seiner Frau abgedruckt: eine ernste griechische Schönheit, mit glänzendem Goldschmuck behängt, von dem man nur vermuten konnte, wie er ursprünglich getragen worden war. Erst dann ging ihr auf, was Friedrich da gesagt hatte. »Geschmeide? Du hast …«
    »Ja, ich habe in der Grube Schmuck gefunden. Sieh her.« Er hob den Deckel.
    »Donnerlittchen!«, entfuhr es dem Photographen. »Na, nu versteh ick det. So wat kann man nich einfach durch die Jejend schleppen.«
    Auf einem schwarzen Samtpolster lag eine Art Kollier. Es bestand aus einer Goldkette, an der dicht an dicht Schnüre hingen, ebenfalls aus Gold. Längliche Perlen aus blau schimmernden Steinen waren an ihnen aufgereiht, unterbrochen von Goldperlen, in die fremdartige Muster eingraviert waren. Die Schnüre endeten in goldenen Tierköpfen. Daneben lag
ein kleiner Reif mit zwei geflügelten Wesen, die an Sphingen erinnerten und sich anstarrten. Der Schmuck wirkte schlicht, archaisch und unendlich kostbar.
    »Ich hab dir’s doch gesagt!«, triumphierte Justus, der herangelaufen kam und Anstalten machte, sich über das Kästchen zu beugen.
    »Justus!« Grazia packte ihn am Matrosenkragen und zog ihn beiseite. »Darf ich es anfassen?«, fragte sie Friedrich mit ehrfürchtiger Stimme.
    »Natürlich, du sollst es sogar tragen. Ist es nicht wundervoll? Sieh dir die Steine an. Kannst du dir vorstellen, was das ist?«
    »Nein.« Ganz vorsichtig berührte sie die Steine. Sie fühlten sich samtig an. »Es sieht ein wenig nach Lapislazuli aus, es ist aber keiner, oder?«
    »Wir wissen nicht, was es ist«, erwiderte der Vater an Friedrichs statt. »Das muss ein Geologe herausfinden. Die Herkunft dieser Kette wird das jedoch auch nicht klären. Stilistisch würde ich den Schmuck ja eher den Skythen zuordnen, aber Herr Mittenzwey sieht das anders.«
    »Ich glaube, es handelt sich um ein Fürstinnengrab einer Kultur, die es noch gänzlich neu zu entdecken gilt. Der Schmuck sieht ganz und gar nicht slawisch aus. Skythische Einflüsse hingegen sind durchaus vorhanden.«
    »Eine Fürstin?« Das war neu für Grazia.
    »Die Knochen stammen zweifelsfrei von einer Frau. Das Geschmeide selbst deutet ja darauf hin. Mehr Kopfzerbrechen bereitet mir das Alter. Wenn ich wüsste, wie die Tote gelegen hat, könnte das ein Hinweis sein, aber leider hatte der Meier sämtliche Knochen schon herausgeholt. Und dann der Regen …«
    »Der Brauch, Dinge mit ins Grab zu geben, ist doch heidnisch? Es müsste also mehr als tausend Jahre alt sein.«

    Sein Bart zitterte, als er unwillig die Lippen schürzte. »So einfach ist das nicht.«
    Verlegen senkte sie den Blick. Er hatte natürlich recht. Auch christliche Gräber konnten Schmuck aufweisen, denn so leicht hatten alte Völker ihre heidnischen Bräuche nicht vergessen. Vor ihrem inneren Auge sah sie eine Frau in antikem Gewand, die Kette auf der Brust, an den Händen weitere Kleinodien, wie sie durch die Hallen eines Palastes schritt. Welche Kultur mochte sich hinter diesem Fund verbergen? Wie waren diese Menschen dereinst auf die
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