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Das Gift der Engel

Das Gift der Engel

Titel: Das Gift der Engel
Autoren: Oliver Buslau
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wissenschaftliches. Joch ein, sagen wir mal, erotisches. Von Schaumburg ein finanzielles. Alles, was sie brauchten, war ein begabter Junge. Da kam ihnen dieser kleine Domenico aus dem italienischen Waisenchor gerade recht. Sie haben ihn entführt und hierher gebracht. Bernardi wird sich seiner angenommen und ihn ausgebildet haben. Er hat so intensiv darüber geforscht, dass ihm das nicht schwergefallen sein dürfte. Ich habe im Internet ein Interview mit ihm gefunden, in dem er sagte, das Einzige, was uns heute daran hindere, einen jungen Mann zum Kastraten zu machen, sei die Justiz, die die Kastration verboten hat. Bei dem Waisenjungen allerdings, dessen Entführung und angebliche Ermordung man auch noch einem anderen in die Schuhe schieben konnte, hatte man freie Hand. Joch wird dann, als es so weit war, die Operation durchgeführt haben. Schließlich war er Urologe.«
    Simone schlug das italienische Buch auf und betrachtete die Seiten, als könne sie darin Antworten auf die Fragen finden, die sie offensichtlich noch beschäftigten.
    »Und du glaubst, in diesem Anwesen hier lebt ein echter Kastrat? Ein junger Mann mit einer Stimme, wie man sie seit Jahrhunderten nicht mehr gehört hat? Ein junger Mann, der kurz vor der großen Karriere steht? Er soll das geheimnisvolle Projekt sein, um das es Guido von Schaumburg ging?«
    »Er war der Sänger, den ich auf dem kleinen Video gesehen habe, da bin ich absolut sicher.«
    »Du meinst, sie haben ihn zehn Jahre hier oben leben lassen? Wie ein moderner Kaspar Hauser … abgeschieden von der Welt?«
    »Ärztliche Versorgung hatte er durch Joch. Frau von Schaumburg wird für das Finanzielle gesorgt haben.«
    »Aber wenn er mit seiner Stimme an die Öffentlichkeit geht, kommt doch alles heraus. Dann muss Bernardi, von Schaumburg oder sonst wer doch alles erklären.«
    »Nicht unbedingt. Es gibt medizinische Erklärungen, die man vorschieben kann. Auch darüber habe ich im Internet einiges gefunden. Es gibt Krankheiten, bei denen Jungen schon im frühen Alter die Hoden entfernt werden müssen. Zum Beispiel bei Krebs. Den Mangel an Hormonen gleicht man mit Medikamenten aus, damit sich die Kinder später im Teenageralter normal entwickeln. Man könnte behaupten, dass Domenico in jungen Jahren ebenfalls krank war und die Medikamente später nicht bekommen hat. Man kann aus ihm einen Mythos machen. Man könnte sagen, dass er aus einem Entwicklungsland stammt, wo er medizinisch nicht richtig versorgt werden konnte. Dazu könnte man ihm gefälschte Papiere besorgen. Es gibt viele Möglichkeiten.«
    Simone nickte nachdenklich. »Und warum musste Dr. Joch sterben? Und Dagmar Dennekamp? … Nikolaus, ich glaube, wir sollten machen, dass wir wegkommen. Es ist unheimlich hier.«
    »Einen Moment noch.« Alban ging auf den Flur. Er fand keine weitere Tür, nur eine Treppe, die weiter hinaufführte. Dann standen sie wieder in einem Gang. Gleich neben dem Treppenabsatz gab es ein weiteres Zimmer.
    Ein Bett, ein kleiner Tisch am Fenster, daneben an der Wand ein zugeklapptes Klavier. Auf dem Tisch lagen ein paar Blätter beschriebenes Notenpapier, daneben ein Stift. Alban erkannte die Handschrift wieder. Es war dieselbe wie die der Arie.
    Zur Ausbildung von Kastraten gehörte im 18. Jahrhundert nicht nur der Gesang, sondern die Musik insgesamt, auch die musikalische Komposition. Der kleine Domenico, jetzt ein erfahrener Musiker, hatte die Arie komponiert. Er verbarg sich hinter dem Kürzel »D.«.
    »Schau mal hier«, sagte Simone hinter ihm. Sie deutete auf das Bett, auf dem Decken und Kissen aufgetürmt waren. »Da liegt was drunter.«
    Alban zog die Bettdecke weg und fand einen Wust von zusammengebundenen Kleidern. Eine Hose, Hemden, T-Shirts.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Simone.
    »Der Junge ist geflohen. Er ist hinausgeklettert. Und jemand hat die Flucht entdeckt. Jetzt wissen wir auch, wen Bernardi da draußen so fieberhaft sucht.«
    Sie eilten über den Flur bis zu einer Tür an der Stirnseite. Was wird wohl als Nächstes kommen?, dachte Alban, als er langsam die Klinke hinunterdrückte. Ein Operationssaal?
    Ein grässliches Bild entstand vor seinem geistigen Auge. Ein weiß gekachelter Raum, hell erleuchtet. In der Mitte eine Liege aus Edelstahl. Darauf ein nackter Junge. Und überall Blut. An den weißen Wänden, auf dem silbernen Metall und auf der blassen Haut des Kindes …
    »Noch immer kein Empfang«, sagte Simone hinter ihm. »Lass uns gehen. Wir haben doch genug
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