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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels
Autoren: Tracy Guzeman
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anschaue.«
    »Vielen Dank, dass du mich schon mal auf die Kritiker vorbereitest, Alice. Weißt du, ich will diesen Effekt mit Absicht erzeugen.«
    »Aber der Strand ist doch so schön. So sieht er wirklich nicht aus.«
    »Aber du hast ihn erkannt.«
    »Ja.«
    »Du hast ihn erkannt, obwohl du Angst davor hast, obwohl du ihn düster und hässlich findest. Aber vielleicht ist der Strand ja wirklich so, und du siehst einfach darüber hinweg. Du siehst die Hässlichkeit nicht, weil du sie nicht sehen willst. Das ist die Aufgabe des Künstlers: die Leute dazu zu zwingen, sich die Dinge anzuschauen – nicht nur Dinge, auch Menschen und Orte –, und zwar auf andere Art als sonst immer. Ein Künstler muss das zeigen, was unter der Oberfläche verborgen ist.«
    Mit dem Finger knapp über der Leinwand zog Alice die Konturen eines Baumstamms nach. Als sie bemerkte, dass er ihre Hände betrachtete, schob sie sie unter ihre Beine.
    »Warum versteckst du sie?« Er klang freundlich, aber bestimmt. »Lass sie mich mal sehen.«
    Sie zögerte, bevor sie ihre Hände zur Besichtigung freigab. Er griff nach ihnen. Seine Handflächen fühlten sich warm und so glatt wie Stein an. Er betrachtete ihre Hände sorgfältig, drehte erst die rechte, dann die linke um. Langsam fuhr er mit den Fingern über ihre, umkreiste ihre Knöchel und rieb über die Haut, als versuchte er, etwas auszuradieren. Dabei sah er ihr die ganze Zeit über ins Gesicht. Alice biss sich in die Wange und versuchte, nicht zurückzuzucken, aber er tat ihr weh, und schließlich zog sie die Hände weg.
    »Halt still. Warum zappelst du denn so?«
    »Weil das wehtut.«
    »Das habe ich gemerkt.« Er ließ sie los, stand auf und ging zum Fenster, wo er seine Zeichnung wieder auf die Staffelei stellte. »Hast du schon mal mit jemandem darüber gesprochen?«
    »Nein.«
    »Auch nicht mit deinen Eltern?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Er zuckte mit den Achseln. »Ich bin kein Arzt. Manche Leute sagen, ich sei nicht mal ein Künstler. Aber wenn dir etwas wehtut, solltest du es jemandem sagen.«
    »Ich habe es doch Ihnen gesagt.«
    Thomas lachte. »Ich bin wohl kaum die richtige Adresse.«
    Sie wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Das wusste sie schon seit geraumer Zeit. Sie humpelte, wenn sie morgens aufstand. Nicht jeden Morgen, aber so oft, dass es nichts Banales sein konnte, nicht bloß ein verstauchter Knöchel, ein blauer Fleck oder eine Blase. Nachts kam oft eine Art Fieber über sie, ihr wurde schwindlig, und sie lief rot an. Wenn sie aufstand und sich eine Aspirintablette holen wollte, verschwand es wieder. Zusammen mit dem Fieber kamen Ausschläge, die ebenso schnell wieder vorbeigingen. Ihre Gelenke schienen Krieg zu führen gegen den Rest ihres Körpers und bedienten sich dabei besonders perfider Taktiken: Sie ließen die Haut um ihre Knie herum scheußlich rot aufflammen und erzeugten eine unangenehme Wärme, so störend wie ein dauernder Juckreiz. Alice hatte nichts von Natalies natürlicher Anmut, und in letzter Zeit fühlte sie sich nur noch plump und hölzern. Bälle, Bleistifte, Koffergriffe – alles glitt ihr aus den Fingern, als wollte es vor ihr fliehen. Sie stolperte über die eigenen Füße, sogar, wenn sie auf sie schaute. Nachts schien die Zeit regelrecht stillzustehen, wenn sie dalag und versuchte, die Schmerzen in ihren Gelenken zu vergessen.
    Sie hatte darüber mal eine Bemerkung ihrer Mutter gegenüber gemacht, war aber vage geblieben und hatte sich bemüht, möglichst sorglos zu klingen. Ihre Mutter reagierte nämlich immer übertrieben, und Alice hatte keine Lust, den ganzen Sommer über in die Stube verbannt zu werden. Ihre Mutter, die sich gerade für eine Dinnerparty ankleidete, hatte gedankenverloren geantwortet: »Das sind Wachstums schmerzen, die gehen vorbei, du wirst schon sehen.«
    »Manchmal zittern mir die Hände«, sagte sie zu Thomas.
    »Mir auch. Dagegen hilft Whiskey.«
    Sie musste lächeln. »Ich glaube, das fänden meine Eltern nicht so gut.«
    »Hm. Da hast du wohl recht. Meinst du, du könntest eine Weile stillsitzen?«
    »Ich glaub schon. Wieso?«
    »Ich will dich nur schnell zeichnen. Das heißt, wenn du nichts dagegen hast.«
    »Sie haben doch schon ein Bild von uns allen gemalt.«
    »Ich weiß, aber jetzt will ich dich alleine zeichnen. Darf ich das also oder nicht?«
    »Solange Sie meine Hände nicht zeichnen …«
    Er krempelte seine Hemdsärmel hoch und schüttelte den Kopf. »Alice, du darfst nicht damit anfangen, Teile
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