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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels
Autoren: Tracy Guzeman
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deines Körpers zu hassen. Dafür bist du noch zu jung. Ich zeichne deine Hände nicht, wenn du das nicht willst, aber sie sind wunderbar. Halt sie mal hoch. Siehst du? Deine Finger verjüngen sich ganz herrlich. Du wärst besser als die meisten anderen Menschen dafür geeignet, einen Pinsel oder ein Musikinstrument zu halten, wegen der Entfernung zwischen dem mittleren Fingergelenk und den Fingerspitzen. Das sind ideale Proportionen.«
    Er nahm einen Bleistift und schärfte ihn an einem kleinen Stück Sandpapier. »Warum schaffen wir es eigentlich nicht, Perfektion im Kleinen zu würdigen? Wenn es nicht ums große Ganze geht, wollen wir es nicht sehen. Ich finde das wirklich schade.«
    »Vögel sind perfekt. Und trotzdem übersehen viele Menschen sie einfach.«
    »Also, wenn Vögel perfekt sind, dann bist du es auch, Alice. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand dich übersehen würde. Jetzt streck die Hände aus, ich will, dass du sie betrachtest.«
    Plötzlich wurde sie verlegen, dachte an ihr strubbeliges Haar und ihre schmutzigen Füße. Sie streckte eine Hand aus und starrte auf den Handrücken. Was sollte sie da schon sehen? Thomas ging zu dem Plattenspieler in der Ecke und sah einen Stapel LPs durch. Dann nahm er eine Platte aus der Hülle. Er legte sie auf, goss sich einen Drink ein und zündete sich eine Zigarette an. Eine französische Stimme erfüllte das Zimmer. Sie klang traurig und sehr einsam.
    »Konzentrierst du dich auf deine Hand? Siehst du diesen blauen Fluss, der knapp unter der Oberfläche liegt? Das ist ein Weg, der geradezu darum bittet, dass du ihm folgst. Ein Strom, der über einen Knochengipfel fließt und sich dann in ein Tal ergießt. Jetzt sitz still, damit ich dich zeichnen kann. Es geht ganz schnell.«
    »Wer singt denn da?«
    »Edith Piaf.«
    »Sie klingt nicht gerade glücklich.«
    Er seufzte. »Du musst aufhören zu reden. Dein Gesichtsausdruck ändert sich ständig. Man nennt sie den ›Spatz von Paris‹ – ach, das hat auch mit deinen Vögeln zu tun! Sie klingt deshalb nicht glücklich, weil sie keinen Grund dazu hat. Sie hat jung geheiratet, wurde schwanger und musste ihr Kind in der Obhut von Prostituierten lassen, wenn sie arbeiten wollte.« Er schaute von der Staffelei auf. »Schockiert dich das?«
    Sie schüttelte den Kopf. Innerlich war sie erschrocken über die Lebensverhältnisse der Frau – andererseits aber auch fasziniert von dem Bild, das sich vor ihrem geistigen Auge formte: ein unscheinbarer braungrauer Vogel mit dickem Schnabel, der wunderbare, kummervolle Töne hervorbrachte.
    »Ihr kleines Mädchen starb mit nur zwei Jahren an Hirnhautentzündung. Piaf selbst wurde bei einem Autounfall verletzt und danach morphinsüchtig. Ihre einzige wahre Liebe kam bei einem Flugzeugabsturz um. Ja, sie ist schon eine tragische Figur. Aber durch ihre persönliche Geschichte bekommt ihre Musik dieses besondere Etwas, findest du nicht auch? Eine gepeinigte Frau. Das hört man in ihrer Stimme.« Er summte mit und schwelgte noch ein bisschen in seiner makabren Geschichte.
    »Sie sind auch nicht glücklich. Peinigt Sie etwas?«
    Von seinem Platz hinter der Staffelei aus betrachtete er sie und legte den Bleistift in die Ablage. Er blickte finster drein, aber ein aufwärts strebender Mundwinkel verriet, dass ihre Frage ihn belustigte. »Warum meinst du denn, ich wäre unglücklich?«
    Eine von Alices Schwächen war, dass sie anderen Menschen immer offen sagte, was ihr gerade durch den Kopf ging. Du solltest dich in der Kunst der Subtilität üben, hatte Natalie ihr einmal geraten.
    »Ich hätte den Mund halten sollen.«
    »Alice.«
    Sie biss sich wieder in die Wange. »Unglück kann man leicht erkennen. Die Leute strengen sich nämlich so sehr an, es zu verbergen.«
    »Sehr clever. Sprich weiter.«
    »Vielleicht verstecken Sie es in der Art, wie Sie andere Leute betrachten. Sie konzentrieren sich nur auf die kleinen Einzelheiten. Als wollten Sie vermeiden, den ganzen Menschen kennenzulernen. Oder vielleicht wollen Sie ja auch nicht, dass die anderen Sie kennenlernen. Vielleicht haben Sie Angst, sie könnten Sie nicht mögen.«
    Bei ihrem letzten Satz spannte er unwillkürlich die Muskeln an. »Ich bin fertig. Ich habe dir ja gesagt, es würde schnell gehen. Das ist jedenfalls eine interessante Theorie, gerade von einer Vierzehnjährigen.«
    »Sie sind wütend.«
    »Auf jemanden, der so frühreif ist wie du? Das wäre doch dumm.«
    »Nennen Sie mich nicht so.«
    »Das gefällt
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