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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels
Autoren: Tracy Guzeman
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lächelnd mit den Achseln, und in ihrem Lächeln blitzte für eine Sekunde der Mund seiner Frau auf – und dazu seine ganze wunderbare Welt, wie sie früher gewesen war.
    Als er vor fünf Jahren für Thomas Bayber das Apartment in Williamsburg gefunden hatte, war das Viertel in einem Zustand gewesen, den der höfliche Immobilienmakler als »im Umbruch« bezeichnet hatte. Finch hatte die Wohnung als Investition betrachtet und optimistisch angenommen, der »Umbruch« sei ein Wandel zum Besseren. Aber bis jetzt war die Gentrifizierung aus dem Norden noch immer nicht angekommen. Er spähte durch eine schmutzige, gesprungene Fensterscheibe. Die Tür, die vom vielen Regen aufgequollen war, ließ sich nur schwer öffnen, und als er die Klingel für 7 A drückte, entstand eine dieser unfreiwillig komischen Situationen, weil der Knopfdrücker unten und der Öffnungstastenbetätiger oben ihre Handlungen nicht in Einklang bringen konnten. Finch riss ungeduldig an der Aufzugstür und schaffte es mehrmals nacheinander, den Knauf erst dann zu drehen, wenn das Schloss schon wieder zugeschnappt war. Nach drei vergeblichen Versuchen und vielen Flüchen drehte er sich um und ging zum Treppenhaus.
    Im fünften Stockwerk musste er eine Pause einlegen. Er setzte sich auf die Stufen und rieb sich die schmerzenden Knie. Diese ständigen Störungen in der Maschinerie traten mit unerhörter Regelmäßigkeit auf. Auch sein Kopf tat weh – ob aus Wut oder aus Schuldgefühl, das konnte er nicht sagen. Er wusste nur, dass er höchst ungern an diesen Ort zitiert wurde. Früher hätte er den Besuch vielleicht als Freundschaftsdienst abgehakt, wobei er den Begriff »Freund schaft« schon damals weit auslegen musste. Aber inzwischen brauchte er keine Bezeichnungen mehr, sondern sah die Dinge so, wie sie wirklich lagen. Für Thomas war er manchmal nützlich und manchmal eben nicht. So einfach war das.
    Seine Frau hätte nicht gewollt, dass er herkam. Vielleicht hätte Claire nun sogar jene Worte ausgesprochen, die sie all die Jahre in sich verschlossen hatte. Das Maß ist voll, Denny . Und damit hätte sie recht gehabt. Selbst der opulente Trauer kranz, den Thomas zur Beerdigung hatte schicken lassen (Finch fragte sich, ob er für Thomas’ großzügige Gabe eben falls aufgekommen war), hätte Claire nicht beschwichtigt. Und ihn selbst hatte der Kranz auch nicht getröstet. Thomas – und alles, was ihn betraf – hatte einfach zu viel Platz in ihrem Leben eingenommen, als dass ein obszön großes Orchideengesteck es hätte ungeschehen machen können. Finch spürte, wie der Kummer ihn überkam. Er vermisste sie. Elf Monate waren nicht sehr lang (hin und wieder fischte er noch eine Beileidskarte aus dem Briefkasten), aber für ihn hatte sich die Zeit ausgedehnt und verlangsamt. Seine Tage bestanden nur noch aus monotonen Stunden, die sich vor und hinter ihm auftürmten, die vergangenen genau gleich wie die noch kommenden.
    Er rappelte sich wieder auf und griff nach dem Treppengeländer. Eigentlich musste er dankbar sein für die Abwechslung. Hätte er heute denn sonst das Haus verlassen? Oder gar diese Woche? Wahrscheinlich hätte er sich mit einem Stapel Dissertationen und Prüfungsbögen in seinem Stadthaus verschanzt. Er hätte sie durchgearbeitet und dabei mit halbem Ohr Vaughan Williams’ »Tallis Fantasia« gelauscht. Je länger er gelesen hätte, desto weniger hätte er sich auf die Ausführungen seiner Studenten konzentrieren können; in seiner schwermütigen Stimmung wäre er ständig eingenickt und wieder aufgeschreckt.
    Selbst die kleine Ablenkung durch das Unterrichten lag vielleicht bald hinter ihm. Dekan Hamilton hatte ihm nahe gelegt, zu Anfang des nächsten Semesters eine Pause einzulegen. Finch hatte niemandem, schon gar nicht seiner Tochter, davon erzählt. »Du solltest eine kleine Auszeit nehmen, Dennis«, hatte Hamilton lächelnd gesagt und dabei Schweißbänder und eine Racquetball-Schutzbrille in seine glänzende Sporttasche gestopft. Finch musste sich sehr beherrschen, ihn nicht zu erwürgen. Zeit. Davon hatte er ohnehin zu viel. Wenn er sie nur zum Verschwinden bringen könnte.
    Als er jung gewesen war, hatte er oft darüber nachgedacht, wie er als alter Mann wohl sein würde. Sein Vater war ein bodenständiger, liebenswürdiger Mensch gewesen, der schnell Kontakte zu Fremden geknüpft, seinen Sohn aber sehr streng erzogen hatte. Finch nahm an, dass er selbst ähnlich werden würde – vielleicht etwas reservierter. Doch im
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