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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels
Autoren: Tracy Guzeman
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dir nicht? Es war als Kompliment gemeint.«
    »Das ist aber kein Kompliment.« Sie wurde rot, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Es war ihr furchtbar peinlich, dass sie das Falsche gesagt hatte. »Das heißt doch nur, dass man mehr weiß, als die Erwachsenen für gut halten, und dass man sie deswegen in Verlegenheit bringt. Sie wissen dann nämlich nicht mehr, was sie in deiner Nähe sagen dürfen und was nicht.«
    Er kam zum Sofa und hielt ihr ein farbverspritztes Taschentuch hin, aber sie schob es von sich, immer noch bemüht, nicht zu weinen. Thomas kicherte. Der Gedanke, dass er sie auslachte, machte sie zornig. Ein stotternder Wortstrom floss aus ihrem Mund. Er legte ihr einen Finger unter das Kinn und hob ihren Kopf, sodass sie sich anschauten.
    Die Luft im Zimmer wurde warm. Das Geräusch ihres eigenen Herzens erschreckte sie: Das rasende Klopfen war so vernehmlich, so laut. Wie konnte er es nicht hören? Es übertönte sogar den Spatz von Paris und seine melancholischen Worte. Das Zimmer und alles, was darin war, tanzte vor ihren Augen, und ihr Mund wurde trocken. Sie glaubte zu ersticken. Bald würde sie nach Luft schnappen wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezogen hatte. Ihr Blick sprang von seinen Füßen zu seinem Ärmelaufschlag und dann zu der Plattenspielernadel, die sachte schaukelnd über die Platte hüpfte. Ihre Haut prickelte. Und sie konnte nichts dagegen tun. Sie musste ihn einfach anschauen, und als ihre Augen sich trafen, wandelte sich sein Gesichtsausdruck von gespielter Reue über Sorge bis hin zu Verständnis. Ihr Gesicht brannte.
    Er ließ die Hand sinken und trat einen Schritt zurück, dann betrachtete er kurz den Boden und sah sie wieder an. »Na schön. Von jetzt an werde ich das Wort ›frühreif‹ aus meinem Wortschatz streichen. Darf ich dann auf Vergebung hoffen?« Er zog eine Grimasse und legte die Hände zusammen wie zum Gebet.
    Er machte sich auf freundliche Art über sie lustig. Oder wollte sie zum Lachen bringen. Und da war Alices Welt wieder in Ordnung, so schnell, wie sie zuvor eingestürzt war. Es tat ihm leid, dass er sie verletzt hatte. Er wollte, dass sie ihm verzieh. Ein schwacher elektrischer Strom floss durch ihren Körper.
    »Ja, ich vergebe Ihnen. Außerdem – ich wette, Ihre Eltern halten Sie auch nicht gerade für sonderlich reif. Sie können nicht viel älter sein als ich, Thomas.«
    Dieses Mal lächelte er nicht. »Solche Spielchen passen nicht zu dir, Alice, und ich hoffe, du gewöhnst dir so was nicht an. Wenn du wissen willst, wie alt ich bin, dann frag mich einfach. Obwohl ich dir das nicht generell empfehlen würde, die meisten Leute sind da nämlich empfindlich. Aber ich bin zum Glück nicht wie die meisten Leute.« Er verbeugte sich vor ihr. »Ich bin achtundzwanzig. Also Jahrhunderte älter als du. Uralt.«
    »Sie sehen aber nicht uralt aus.«
    »Bin ich aber. Ich wurde schon alt geboren. Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass ich bei meiner Geburt aussah wie ein grantiger alter Mann – faltige Haut, wässrige Augen. Hast du schon mal den Ausdruck ›alte Seele‹ gehört? Als ich geboren wurde, hatte ich den Kopf voll geplatzter Träume und das Herz voll fremder Erinnerungen. Dagegen kann man nichts tun. Aber ich hätte mir die Person, deren Kummer und Erinnerungen ich herumtragen muss, trotzdem lieber selbst ausgesucht.« Er sah sie an und seufzte. »Und du? Ich vermute mal, du bist wie die meisten Jugendlichen in deinem Alter und möchtest lieber älter sein.«
    Sie sah über die »Jugendlichen in ihrem Alter« hinweg. Sie wollte nicht zugeben, dass ihre Pläne sich danach richteten, welcher Wochentag gerade war, welches Buch sie ge rade gelesen hatte, ob das Fieber sie in jener Nacht in Ruhe gelassen hatte oder nicht. Die Zukunft war eine dunkle Höhle, die sich vor ihr auftat und sie aufforderte, einzutreten.
    »Nein. Man wird ja älter, egal, ob man will oder nicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht fliegen wir sowieso alle in die Luft, dann ist doch alles egal.«
    »Was? Meinst du wegen der Kommunisten? Das glaube ich nicht.«
    »Warum denn nicht?«
    »Weil die meisten von denen uns wahrscheinlich genauso wenig in die Luft sprengen wollen, wie sie sich wünschen, von uns in die Luft gesprengt zu werden.«
    Alice nickte und dachte an die Unterhaltungen über dieses Thema, die sie mit angehört hatte. »Gleichgewicht des Schreckens.«
    »Ist ja kaum zu glauben, wie viel du weißt. In deinem zarten Alter wäre es wohl
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