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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels
Autoren: Tracy Guzeman
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bisschen von der dreisten Impulsivität ihrer Schwester. In Natalies Schönheit lag ganz einfach eine be sondere Kraft. Sogar jetzt, schlapp wegen eines Bazillus, den sie sich beim wochenlangen Besichtigen von Colleges eingefangen hatte, war Natalie eine strahlend helle Sonne, der Stern, um den die anderen kreisten. Es war allerdings seltsam, dass Natalie überhaupt keine Anstalten machte, Thomas Bayber mit ihrem Charme zu umfangen, dass sie seine Anwesenheit überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Noch seltsamer war, dass die Eltern sie wegen dieser Unhöflichkeit nicht ermahnten oder darauf bestanden, dass sie ihn begrüßte. Und Thomas Bayber wiederum schien Natalie genauso wenig zu beachten.
    »Hallo, Thomas, sind Sie da? Ich bin’s, Alice.« Sie klopfte lauter. Der glatte Türknauf drehte sich in ihrer Hand, und die Tür öffnete sich quietschend.
    »Thomas?«
    Ihr Vater war im Ruderboot, weit draußen auf dem See. Und Natalie hatte keine Lust gehabt, mit Alice Flutschsteine zu werfen. Sie hatte ihren Badeanzug angezogen, etwas zum Essen eingepackt und verkündet, dass sie an den Strand im Ort gehen und allein sein wolle. Die Mutter traf sich mit Urlaubsbekanntschaften zum Bridge.
    »Thomas?«
    Sie hörte ein kratzendes Geräusch, und dann war er da, stand direkt vor ihr und nahm ihr das Licht. Er sah aus, als hätte er geschlafen: Seine Augen wirkten klein, auf der Wange hatte er halbmondförmige Abdrücke, und seine dunklen Haare waren ganz durcheinander. Aber sie hatte ihn doch erst vor einer halben Stunde dabei beobachtet, wie er die Papiertüte ins Haus getragen hatte.
    »Sie sehen ja aus wie ’ne Vogelscheuche«, sagte sie.
    Er lächelte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Alice, was für eine nette Überraschung.«
    »Passt es Ihnen denn?«
    »Na klar. Warum denn nicht?«
    »Wo ist Neela?« Alice war der kleine Hund ans Herz gewachsen. Sie trug sogar Essensreste mit sich herum, für den Fall, dass sie ihm begegnete. Natalie dagegen nannte Neela die »böse kleine Töle«.
    »Sie wird dich beißen, wenn du nicht aufpasst«, hatte sie zu Alice gesagt.
    »Stimmt gar nicht. Du bist bloß eifersüchtig, weil sie mich mag.«
    »Das hat sie nicht davon abgehalten, Thomas zu beißen, und er ist ihr Besitzer.«
    »Ich glaub dir kein Wort.«
    »Solltest du aber.« Natalie grinste. »Ich hab die Narbe gesehen.«
    Thomas drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. »Neela besucht gerade Freunde, glaube ich.« Seine nackten Füße hinterließen Spuren in der feinen Staubschicht auf dem Boden. Alice folgte ihm.
    »Verdammter Kreidestaub«, fluchte er. »Der verteilt sich überall.«
    »Woran arbeiten Sie denn? Darf ich mal gucken?«
    »Ich weiß nicht, ob das schon für die Öffentlichkeit bestimmt ist, aber du darfst einen Blick darauf werfen, wenn du unbedingt möchtest. Moment.« Er sah einige Leinwände auf einer Staffelei durch, die zu den Fenstern zum See ausgerichtet war. Dann wählte er eine aus und setzte sich damit auf ein altes Samtsofa. Auffordernd klopfte er auf das Sitzkissen neben sich.
    Das Sofa hatte die Farbe dunkler Schokolade, einige Flecken und abgewetzte Stellen. Aber trotz seines Zustands wirkte es irgendwie elegant. Dieselbe Eleganz lag über allen Sachen im Zimmer. Da waren schöne Bücher mit ramponierten Umschlägen und von Feuchtigkeit aufgequollenen Seiten, eine Standuhr mit ausgebrochener Tür und Viertelstundenläuten, teuer aussehende Perserteppiche mit ausgefransten Rändern. Alles war vom Verfall gezeichnet und doch genau so, wie man es sich idealerweise vorstellte. Im Gegensatz dazu war das Häuschen der Restons nur ein Drittel so groß und sah von innen so aus, als seien die Bewohner Jäger – was überhaupt nicht stimmte. Aber dieses Zimmer war wie Thomas selbst, dachte Alice: traurig und alles andere als perfekt, aber ehrlich.
    Sie setzte sich im Schneidersitz neben ihn auf das Sofa. Er drehte ihr die Leinwand zu. Es war eine Kreideskizze des Strands in der Nähe des Städtchens, aber leider ganz ohne Vögel. Sie erkannte den Ort an der Silhouette der Tannen vor dem Himmel und der Form des Ufers. Dort war sie schon gewesen, aber so, wie Thomas die Landschaft wiedergegeben hatte, wirkte sie fremd. Die Anlegestelle hatte er mit dunklen, heftigen Strichen gezeichnet, die Bäume hatten keine Blätter und sahen aus wie verkohlt, und das Wasser schlug wütend und schäumend gegen Steine und Strand.
    »Warum haben Sie das so gemalt? Ich kriege Angst, wenn ich mir das
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