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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme
Autoren: Julia Krohn
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Füße mit seinem Tau durchtränkte. Wie weich es war, darauf zu laufen, wie weich …
    Kurz schloss sie die Augen, ward von einem warmen, matten Gelb umhüllt. Sie gab sich diesem wonnigen Gefühl hin, lief mit geschlossenen Augen weiter.
    Als sie endlich die Augen wieder öffnete, sah sie in der Ferne eine Stadt.
    Die Stadt lag auf einem Hügel und war von einer Mauer umgeben, so hoch und wuchtig, wie sie es noch nie gesehen hatte. An einer Stelle war die Mauer von einem Tor unterbrochen, durch das sie nun wankte.
    Sie fühlte Blicke auf sich, viele Blicke, entsetzte Blicke, ungläubige und ängstliche. Sie dachte an den wilden Wolf, der in die Kirche vorgedrungen war und vor dem alle zurückgewichen waren, ehe die Männer ihn erschlagen hatten. Jetzt war sie das wilde Tier, das die Menschen scheuten. Es waren viele Menschen, die freilich allesamt keine Gesichter hatten – zumindest nicht für sie. Seit sie die Stadt betreten hatte, blickte sie nicht viel höher als bis zu den Beinen der Vorbeigehenden. Manche der Füße waren nackt und dreckig, andere steckten in Schuhen aus Leder. Von den Händen sah sie gerade noch die Fingerspitzen, aber nicht mehr. Sie brauchte nicht in die Gesichter zu blicken, um zu fühlen, was sich darin ausbreitete: Ekel, Furcht und Unbehagen. Sie konnte den Angstschweiß der Menschen riechen – oder war es ihr eigener?
    Sie schlotterte am ganzen Körper, vor Erschöpfung, vor Schmerzen, vor Trauer.
    Eigentlich hatte sie eine Kirche erreichen, hatte sich deren schützendem Obdach anvertrauen wollen. Doch so weit kam sie nicht. Bis jetzt war jedem Schritt ein weiterer gefolgt, und fiel er auch noch so schwer. Nun aber konnte sie nicht mehr weiter. Sie fiel nicht schnell zu Boden, sondern unendlich langsam, brach zuerst auf die Knie, verharrte, als würde sie beten, und wurde dann von ihrem schweren Oberkörper nach vorne gezogen. Ihr Kopf schlug auf die Erde, schmerzte noch heftiger. Ächzend ließ sie sich herumrollen und blickte in das Gesicht einer Frau, die sich über sie beugte.
    Jene war leichenblass vor Entsetzen. Sie schlug ein Kreuz über ihrer Brust, als wollte sie sich vor ihrem Anblick schützen. »Oh, mein Gott«, stammelte die Frau ein ums andere Mal. »Oh, mein Gott.«

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II. Kapitel
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    Graf Robert von Laon hatte anfangs Mitleid mit seinem Waldhüter gehabt, aber je länger er mit ihm zusammen saß, desto entschiedener wandelte es sich in Verärgerung. Er schämte sich dafür, dass er ungeduldig wurde. Es war ein denkbar unpassendes Gefühl, um dem traurigen Anlass gerecht zu werden. Doch er konnte es nicht vermeiden, spürte, wie sein Mund schmallippiger wurde, seine Stirne sich runzelte und seine Stimme einen leicht nörgelnden Klang annahm. Sein Mitgefühl war eben noch aufrichtig gewesen, aber da es nicht dankbar angenommen wurde, schwand es zunehmend.
    Audacer schien sich nicht daran zu stören. Er sah ohnehin nicht in Roberts Gesicht, sondern saß in sich zusammengesunken, seitdem er den Saal des Grafen betreten und sich auf dem Stuhl ihm gegenüber niedergelassen hatte. Er war nicht einmal bereit gewesen, seinen schweren Umhang abzulegen, der so verdreckt war, dass sich nicht genau ausmachen ließ, ob er aus Schaf-, Biberoder Maulwurffell gefertigt war.
    Genau genommen achtete Audacer nie auf seine Kleidung und noch weniger auf seine Reinlichkeit. Er stank zwar nicht nach Schweiß, aber immer nach Wald und Erde, als würde er sich nicht nur stundenlang dort herumtreiben, sondern sich regelmäßig auf den Boden werfen, um sich darin zu suhlen wie ein Wildschwein. Ein bösartiges Gerücht über ihn besagte, dass er Baumstämme wie Weiber umarmte, dass er sich – bevor er die Ehe eingegangen war – nie mit einer Menschenfrau gepaart hätte, nur mit den geisterhaften Wesen des Waldes, und dass seine Füßeund Arme, gleichwohl verborgen unter Kleidung, längst das Aussehen von knorrigen ästen angenommen hätten.
    Graf Robert räusperte sich, um der klagenden, jedoch immer leiser werdenden Litanei des anderen etwas entgegenzusetzen: »Du musst es so sehen, Audacer: Nicht immer darf man alles behalten, was Gott einem in seiner großen Güte geschenkt hat, sondern …«
    »Gott ist nicht gütig!«
    Der Graf schüttelte den Kopf. Anders als die meisten Menschen in Laon mochte er Audacer. Er versuchte, sein stets mürrisches Wesen zu verstehen, billigte sein undeutliches Grummeln, das nur selten zu lautem Geschrei anwuchs, ebenso wie seinen für viele Menschen
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