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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme
Autoren: Julia Krohn
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leicht erhöht die Schlaf statt. Auf ein paar geknüpften Teppichen lagen die Strohsäcke – die Strohsäcke von ihr und ihrem …
    Das Bild verschleierte sich, aber während sie nun, nicht mehr atemlos umherirrend, sondern fast würdevoll schreitend, jenes Ödland durchwanderte, gesellten sich immer neue Eindrücke hinzu.
    Bauern. Sie waren Bauern. Unfreie Bauern, das Land gehörte ihnen nicht, es gehörte den Pächtern, denen sie Abgaben leisteten. Die Pächter schützten sie für gewöhnlich.
    Doch sie haben uns nicht vor den Angreifern aus dem Norden retten können. Das ganze Dorf wurde verbrannt, alle Bewohner getötet, nur ich nicht … nur ich nicht … aber zu welch schrecklichem Preis?
    Unwillkürlich griff sie sich an den Kopf, ertastete dort nicht die dicken, kräftigen Locken, die sie erwartete, sondern nur angekohlte Strähnen, die zu Staub zerrieselten, kaum dass sie sie berührte. Sie tastete weiter, stellte fest, dass das Haar nicht am ganzen Kopf verbrannt war, nur an den Schläfen und an der Stirn.
    König Karl, kam ihr plötzlich ein Name in den Sinn – der erste, an den sie sich erinnern konnte. Den eigenen wusste sie noch immer nicht; in jenen wüsten Lauten schien er verschollen zu sein: im Geschrei, dem Feuer, den knirschenden Balken, den wüsten Schritten. Nur dass sie in einem Land lebte, in dem ein König namens Karl herrschte, den man »den Kahlen« nannte – das wusste sie wieder.
    Freilich, nie war sie auch nur in die Nähe einer der königlichen Pfalzen gekommen. Ihr Leben war auf das Dorf begrenzt, bis auf jene Tage, da es zum Wochenmarkt in die nächstgelegenen, etwas größeren Orte ging und wo sie – auch das stand ihr plötzlich wieder klar vor Augen – Hühner und Eier mit den Erzeugnissen der Töpfer, der Schmiede oder der Weber tauschte. Geld hatte sie nur ein einziges Mal genommen, einen ganzen Denar, und dafür, das hatte ihr Mann gesagt, könnten sie ganze fünfundzwanzig Haferbrote kaufen.
    Ihr Mann.
    Ein neuerlicher Schmerz durchzuckte ihre Leibesmitte und ließ sie zusammensacken. Ihre Brüste schienen zu platzen, sich an den Warzen in Blut aufzulösen. Der Name ihres Mannes fiel ihr genauso wenig ein wie der eigene, doch sie konnte sich an sein Gesicht erinnern. Das Gefühl, alles verloren zu haben, von Gott und der Welt verlassen zu sein, nagte von allen Seiten an ihr. Es würde sie auffressen, es würde nichts von ihr übrig lassen als einen Kadaver. Die Tiere des Waldes würden ins ödland vordringen, um ihn zurück in den schützenden Schatten der Bäume zu zerren und sich dort daran zu sättigen.
    »Warum?«, hörte sie sich mit fremder Stimme klagen. »Warum nur?«
    Sie hatte diese Strafe nicht verdient, niemand in ihrem Dorf hatte das. Einfache Menschen lebten dort, die ihr Schicksal nicht beklagten, sondern es als eines hinnahmen, das Gott ihnen zugedacht hatte. Gott hatte auch entschieden, dass sie hart arbeiten mussten, als Buße für jene Schuld, die Adam und Eva auf sich geladen hatten. Wer sich dieser Buße ohne zu murren fügte, der konnte die Schuld abtragen, die jedes Kind von Geburt an mitbekam.
    Das Leben, das sie nie wieder auf diese Weise würde führen können, war nicht ohne Mühen gewesen, aber einfachen Regeln unterworfen. Seit sie denken konnte, wurde ihr aufgetragen, was sie zu tun hatte. Von den Eltern, dann, nach deren Tod, von ihrem Bruder, schließlich von ihrem Mann. Sie folgte den Befehlen, wie alle Frauen es taten. Frauen buken Brot, fütterten die Hühner und schoren die Schafe. Frauen sammelten Holz und Obst und halfen beim Heuen. Sie zupften Wolle, strichen sie mit Disteln glatt und brachen Flachs. So war es gewesen, so würde es immer sein, auch dieses Jahr hatte den üblichen Verlauf genommen. Im März wurden die Reben beschnitten, im April die Tiere auf die Weide gebracht und Unkraut gejätet, im Mai …
    Im Mai hatte Gott ihre Welt zertrümmert.
    Sie erhob sich stöhnend, beinahe erstaunt, dass der Schmerz sie nicht vernichtet hatte, dass etwas von ihr übrig geblieben war und dieser Rest ausreichend mit Lebenskräften erfüllt schien, sodass sie weitergehen konnte, immer weiter, über den nächsten Hügel, über die nächste Wiese, an den Ausläufern eines Waldes vorbei. Sonne fiel durch einen Wolkenspalt, tauchte die Welt in sattes Grün. Sie fühlte, wie die Strahlen sie kitzelten, wie sie wieder zu riechen begann. Ja, sie roch Gras, frisches, saftiges Gras, das ihr fast bis zu den Knien stand und die Leinenbinden um ihre
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