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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen
Autoren: Jeffery Deaver
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Manhattan.
    »Ja, Euer Ehren.«
    Die Frau beugte sich vor und studierte die Unterlagen. »Ich habe in den letzten beiden Tagen mit mehr Leuten von der Fürsorge, dem Jugendamt, dem Rathaus, dem INS, Police Plaza Nummer eins und Albany gesprochen, als bei den meisten anderen Vermittlungen in einem ganzen Monat. Verraten Sie mir, Officer, wieso ein dünnes Mädchen wie Sie so viel Einfluss in dieser Stadt hat?«
    »Ich schätze, ich hab einfach Glück.«
    »Na, jetzt untertreiben Sie aber«, sagte die Richterin und wandte sich wieder der Akte zu. »Ich habe viel Gutes über Sie gehört.«
    Offenbar verfügte auch Sachs über gute guanxi. Ihre Beziehungen reichten von Fred Dellray über Lon Sellitto zu Alan Coe (der nicht etwa gefeuert werden würde, sondern beim INS als Nachfolger des baldigen Vorruheständlers Harold Peabody im Gespräch war). Innerhalb nur weniger Tage hatten sie es geschafft, den mit den meisten Adoptionen verbundenen Papierkrieg auf ein kurzes Gefecht zu beschränken.
    Die Juristin fuhr fort. »Selbstverständlich ist Ihnen klar, dass das Wohlergehen dieses Kindes an oberster Stelle zu stehen hat. Falls ich nicht davon überzeugt bin, dass diese Regelung zum Besten der Kleinen erfolgt, werde ich die Papiere nicht unterschreiben.« Die Frau legte die gleiche wohlwollend schroffe Art an den Tag, die Lincoln Rhyme so meisterhaft beherrschte.
    »Etwas anderes würde ich auch gar nicht wollen, Euer Ehren.«
    Sachs hatte erfahren, dass Benson-Wailes wie so viele ihrer Kollegen zu längeren Vorträgen neigte. Die Frau lehnte sich auf dem Stuhl zurück und wandte sich an ihr Publikum. »Also, das New Yorker Adoptionsverfahren beinhaltet eine Überprüfung des jeweiligen Elternhauses, eine Unterweisung der Antragsteller, in der zunehmend Zeit mit dem Kind verbracht wird, und für gewöhnlich eine dreimonatige Probezeit. Ich habe den ganzen Vormittag Unterlagen und Berichte gelesen, mit den Sozialarbeitern und dem von uns bestellten Vormund des Mädchens gesprochen. Ich habe einen sehr guten Eindruck gewonnen, aber dieses Verfahren ist schneller über die Bühne gegangen als der Abstieg der Chicago Bulls nach dem Weggang von Michael Jordan. Ich habe mir Folgendes überlegt: Ich werde eine dreimonatige Pflegschaft gewähren und durch das Sozialamt überwachen lassen. Falls es in dieser Frist keine Probleme gibt, werde ich eine dauerhafte Adoption verfügen, allerdings einschließlich der üblichen drei Monate Probezeit. Wie klingt das für Sie?«
    Sachs nickte. »Sehr gut, Euer Ehren.«
    Die Richterin musterte nachdenklich Sachs' Gesicht. Dann warf sie einen Blick auf Po-Yee und drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Schicken Sie die Antragsteller herein.«
    Gleich darauf öffnete sich die Tür des Büros, und Sam und Mei-Mei Chang traten vorsichtig ein. Sie wurden von ihrem Anwalt begleitet, einem Chinesen in hellgrauem Anzug und leuchtend rotem Hemd, das ebenso gut aus Fred Dellrays Kleiderschrank hätte stammen können.
    Chang nickte Sachs zu. Sie stand auf, trat vor und schüttelte ihm und seiner Frau die Hand. Als Mei-Mei das Kind sah, bekam sie große Augen. Sachs reichte ihr die Kleine. Sie schloss Po-Yee fest in die Arme.
    »Mr. und Mrs. Chang, sprechen Sie Englisch?«, fragte die Richterin.
    »Ich ein wenig«, sagte Chang. »Meine Frau nicht so gut.«
    »Sie sind Mr. Sing?«, fragte die Richterin den Anwalt.
    »Ja, Euer Ehren.«
    »Wären Sie so freundlich, für uns zu übersetzen?«
    »Natürlich.«
    »Ein Adoptionsverfahren ist in diesem Land normalerweise eine langwierige und komplizierte Prozedur. Ein Ehepaar, über dessen Status und Aufenthaltsgenehmigung noch nicht abschließend entschieden wurde, hat praktisch keine Chance, das Sorgerecht zu erhalten.«
    Eine kurze Pause, während Sing übersetzte. Mei-Mei nickte.
    »Aber in diesem Fall liegen außergewöhnliche Umstände vor.«
    Sie hielt abermals inne, und Sing stieß einen kurzen Satz auf Chinesisch aus. Diesmal nickten sowohl Chang als auch seine Frau. Sie sagten nichts, aber Mei-Meis Augen leuchteten auf, und ihr Atem beschleunigte sich. Am liebsten hätte sie gelächelt, das konnte Sachs ihr deutlich ansehen, aber sie hielt sich zurück.
    »Die Einwanderungsbehörde hat mir mitgeteilt, dass Sie einen Asylantrag gestellt haben, der aufgrund Ihres Dissidentenstatus in China vermutlich positiv beschieden wird. Daher gehe ich davon aus, dass Sie dem Kind ein stabiles Zuhause geben können. Zu meiner Entscheidung hat ferner beigetragen,
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