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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen
Autoren: Jeffery Deaver
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dass Sie und Ihr Sohn, Mr. Chang, bereits eine feste Anstellung haben.«
    »Ja, Sir.«
    »>Ma'am<, nicht >Sir<«, korrigierte Richterin Benson-Wailes ihn streng. Zweifellos musste sie im Gerichtssaal keine ihrer Anweisungen wiederholen.
    »Bitte verzeihen Sie. Ma'am.«
    Für die Changs wiederholte die Richterin nun, was sie Sachs bereits zum Ablauf des Verfahrens und den Probezeiten erläutert hatte.
    Offenbar verstanden die beiden genug Englisch, um die Bedeutung der Ausführungen auch ohne Übersetzung zu begreifen. Mei-Mei begann leise zu weinen, und Sam Chang nahm sie lächelnd in den Arm und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann ging Mei-Mei zu Sachs und umarmte sie. »Xiexie, danke, vielen Dank.«
    Die Richterin unterzeichnete ein Dokument, das vor ihr lag. »Sie können das Kind jetzt mitnehmen«, sagte sie, womit die Sitzung beendet war. »Mr. Sing, wegen der notwendigen Papiere wenden Sie sich bitte an unsere Geschäftsstelle.«
    »Jawohl, Euer Ehren.«
    Sam Chang führte seine Familie, die nun offiziell um ein Mitglied gewachsen war, auf den Parkplatz neben dem dunklen Steingebäude des Familiengerichts. Er hatte heute schon zum zweiten Mal vor einem Richter erscheinen müssen. Der erste Termin war seine Zeugenaussage im Fall der Familie Wu gewesen. Ihr Asylantrag schien weniger aussichtsreich als der der Changs, aber ihr Anwalt war vorsichtig optimistisch, dass sie in den Vereinigten Staaten würden bleiben können.
    Die Changs und die Polizistin blieben neben dem gelben Sportwagen der Frau stehen. William, der den ganzen Tag mürrisch und trübsinnig gewirkt hatte, blühte plötzlich auf. »Ein Camaro SS«, sagte er.
    Die Frau lachte. »Du kennst dich mit amerikanischen Autos aus?«
    »Wer will schon etwas anderes fahren?«, fragte der schlanke Junge spöttisch und nahm den Sportwagen genau in Augenschein. »Mann, was für eine geile Karre.«
    »William«, flüsterte Chang vorwurfsvoll und erntete dafür von seinem Sohn einen eisigen und verständnislosen Blick.
    Mei-Mei und die Kinder gingen weiter zu ihrem Kleinbus, aber Chang blieb noch neben der rothaarigen Polizistin stehen. Er wählte die englischen Worte sehr sorgfältig und langsam. »Alles, was Sie für uns getan haben, Sie und Mr. Rhyme. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Und das Baby. Wissen Sie, meine Frau hat sich immer.«
    »Ich verstehe schon«, sagte die Frau und klang fast ein wenig abweisend. Er begriff, dass sie den Dank zwar zu schätzen wusste, sich in dieser Rolle aber etwas unbehaglich fühlte. Sie ließ sich auf den Sitz ihres Wagens fallen und zuckte leicht zusammen, weil ihr womöglich ein entzündetes Gelenk oder ein gezerrter Muskel wehtat. Der Motor erwachte mit kraftvollem Geräusch zum Leben, und dann steuerte sie eilig die Ausfahrt des Parkplatzes an und beschleunigte.
    Kurz darauf war der Wagen nicht mehr zu sehen.
    Die Familie musste sich schon bald in einem Bestattungsinstitut in Brooklyn einfinden, wo der tote Chang Jiechi für die Beisetzung hergerichtet wurde. Doch Sam Chang verharrte an Ort und Stelle und ließ den Blick über die umliegenden grauen Gerichts- und Bürogebäude schweifen. Er musste einen Moment allein sein, dieser Mann, der zwischen dem Yang und dem Yin des Lebens gefangen war. Wie gern hätte er all das Harte abgestreift, das Maskuline, das Traditionelle, das Autoritäre - die Aspekte seines bisherigen Lebens in China -, um das Künstlerische zu umarmen, das Feminine, das Intuitive, das Neue: all das, wofür das Schöne Land stand. Doch es war schwierig, dies in die Tat umzusetzen. Mao Tse Tung hatte versucht, die alten Gebräuche und Vorstellungen mit einem simplen Dekret abzuschaffen, und dadurch beinahe das ganze Land zerstört.
    Nein, dachte Chang, die Vergangenheit ist stets ein Teil von uns. Aber er wusste nicht, zumindest noch nicht, wie er in Zukunft einen Platz dafür finden sollte. Es war möglich. Auch in Peking lag die Verbotene Stadt mit ihren alten Gespenstern in unmittelbarer Nähe des Platzes des Himmlischen Friedens, auf dem ein ganz anderer Geist geherrscht hatte. Doch Chang vermutete, dass dieses Bemühen um Ausgleich ein lebenslanger Prozess sein würde.
    Hier war er nun, eine halbe Welt von allem Vertrauten entfernt, zutiefst verwirrt und inmitten einer Vielzahl neuer Herausforderungen.
    Die Ungewissheit des künftigen Lebens in einem fremden Land lastete schwer auf ihm.
    Doch ein paar Dinge wusste Sam Chang mit Sicherheit:
    Dass er während des herbstlichen Gräberfests
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