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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden
Autoren: Émile Zola
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seines Herzens eindringen und nach einem verborgenen Gedanken suchen. Wenn er diesen forschenden Blick fühlte, wurde er verwirrt und dann sah er ein feines, bedeutungsvolles Lachen um die Lippen der jungen Frau spielen.
    Als eines Tages die beiden Freunde ihr wieder ihre Aufwartung machten, erfuhren sie eine sehr unerwartete Neuigkeit. Lorin war plötzlich in London gestorben. Diese Nachricht machte einen tiefen Eindruck auf die beiden Freunde. Denn sie konnten zwar keine wirkliche Trauer um Lorin empfinden, aber sie bedauerten sehr, daß der kleine, blaue Salon nun für sie geschlossen sein würde. Dieser Todesfall, der die von ihnen Beiden geliebte Frau der Freiheit zurückgab, verursachte ihnen mehr Furcht als Hoffnung. War doch jede Veränderung gefährlich für die Gewohnheiten, bei denen ihr Herz sich so glücklich fühlte.
    Auch jetzt kam es nicht zu einer gegenseitigen vertraulichen Aussprache zwischen den Beiden. Sie führten ein gemeinsames Leben und doch hatte jetzt jeder sein Geheimnis und verschob seine Herzensbeichte auf unbestimmte Zeit.
    Sie ließen einige Wochen vorübergehen, ehe sie es wagten, Jeanne wieder einen Besuch zu machen. Es kam ihnen vor, als sei nichts verändert. Die junge Witwe war ein wenig blaß, empfing sie mit ihrer gewöhnlichen Herzlichkeit und zeigte sich bloß etwas zurückhaltender gegen Georg. An jenem Tage sah sich Daniel gezwungen, das Wort zu führen.
    Lorin hatte sich auf gefährliche Spekulationen eingelassen, die mißglückt waren, so daß seiner Frau nicht viel übrig blieb, und dies wenige ging ihr auch noch größtenteils verloren durch ihren Vater. Dieser war sehr froh über den Tod seines Schwiegersohnes, der ihn immer sehr knapp gehalten hatte. Mehr als freie Wohnung und Tisch hatte er dem Schmarotzer nie gewährt. Nun Lorin aber tot war, verlangte von Rionne unverfroren Geld von Jeanne, und diese überließ ihm auch den Rest des Vermögens, das sie nicht mochte, weil es von ihrem Manne kam. Sie behielt nur, was sie zum Leben durchaus brauchte.
    Daniel, der dies Alles erfuhr, schätzte Jeanne darum noch höher. Ueberhaupt stieg sie jetzt jeden Tag in seiner Achtung und er wünschte sich Glück dazu, daß der Wunsch seiner verstorbenen Wohlthäterin in Erfüllung gegangen, daß Jeanne für immer den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Dieser Ueberzeugung verlieh er denn auch Ausdruck in einem neuen Briefe, als ihn eines Tages wieder sein altes Begeisterungsfieber packte.
    Am nächsten Tage erhielt er — zu seinem nicht geringen Schrecken — ein Briefchen von Jeanne, worin sie ihn bat, sie zu besuchen. Er brach sofort auf, ohne Georg zu benachrichtigen und rannte wild aufgeregt wie ein Irrsinniger zu Jeanne.
    Die junge Frau war aus der großen Wohnung, die sie mit ihrem Manne inne gehabt hatte, ausgezogen und wohnte jetzt im zweiten Stock eines ziemlich bescheidnen Hauses. Sie empfing Daniel in einem hellen, dürftig möblirten Zimmerchen.
    Er konnte kein Wort hervorbringen, so beklemmt war er; aber Sie bemerkte seine Aufregung nicht, als sie ihn Platz zu nehmen bat.
    »Sie sind mein bester, mein einziger Freund, begann Sie mit rührender Vertraulichkeit, und ich bedaure, daß ich Ihre Herzensgüte nicht früher erkannt habe. Verzeihen Sie mir meine Unachtsamkeit?«
    Sie ergriff seine Hand, sah ihn mit feuchten Augen an und fuhr denn fort, ohne ihm Zeit zu einer Antwort zu lassen:
    »Ich weiß, daß Sie mich gern haben, und möchte Ihnen daher ein Geheimniß anvertrauen und Sie um eine große Gefälligkeit bitten.«
    Daniel erblaßte und bekam wieder einen Anfall seiner alten hülflosen Blödigkeit, denn er bildete sich ein, die junge Frau wäre hinter sein Geheimniß gekommen und wolle von seinen Briefen sprechen.
    »Lassen Sie hören,« stotterte er.
    Jeanne errötete, zögerte eine Weile und sagte dann mit fliegender Eile:
    »Ich empfange seit einigen Monaten Briefe, deren Verfasser Ihnen nicht unbekannt sein kann. Deshalb wollte ich mich an Sie wenden, um die Wahrheit zu erfahren.«
    Daniel war einer Ohnmacht nahe. Eine heiße Blutwelle stieg ihm ins Gesicht.
    »Sie antworten nicht,« fuhr die junge Frau fort. »Sie wollen also nicht Ihren Freund verraten. Gut! Dann werde ich reden: die Briefe sind von Herrn Georg Raymond. Leugnen Sie nicht. Ich weiß Alles. Ich habe seine Liebe in seinen Augen gelesen und so viel ich auch herumgeraten habe, ist mir kein Andrer eingefallen, der solche Briefe schreiben könnte.« Sie hielt inne, um sich zu besinnen, wie sie
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