Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
in ihrem ganzen Wesen eine fieberhafte Unruhe bekundete. Die einstige Sorglosigkeit, die jugendliche Leichtfertigkeit, die alle tieferen Gefühle einfach ignorirte, war dahin; schwerer Kummer hatte das Herz zum Leben entfaltet, aber nur, damit es alsbald verbluten sollte. So lange die zarteren Empfindungen in ihr geschlummert hatten, war sie ein kokettes Zierpüppchen gewesen, das mit feiner kalten Satire alle Angriffe auf seine Seelenruhe leicht abschlug. Jetzt aber hatte sich ihr Herz geregt; es verlangte nach Liebe und fand Niemanden, den es lieben konnte. Da empörte es sich und machte sich bittre Vorwürfe, weil es zu lange geschlafen hatte.
    Jeannes Erwachen war ein sehr grausames gewesen. Zwei oder drei Monate nach ihrer Hochzeit entdeckte sie in sich eine Seele, von der sie bisher nichts gewußt hatte. Hervorgerufen wurde diese Erkenntnis durch ihren Mann, dessen niedrige, bösartige Denkweise sie anwiderte und ihr die Augen öffnete. Als sie inne wurde, was für ein Mensch er war, empörte sich ihr Stolz, der Stolz, den sie ihrer Mutter verdankte, und wuchs ihr innerer Mensch über den äußerlichen hinaus, den nur die Umstände geschaffen hatten, und nun zerriß der Schleier. Nun verstand sie, was es hieß, für immer an solch einen Mann gebunden zu sein; nun erzitterte sie vor Furcht und Zorn. War sie doch selber Schuld an ihrer trostlosen Lage, hatte sie doch mit ihrem Leichtsinn all das Herzeleid möglich gemacht, dem sie jetzt überantwortet war. Und keine Rettung! Denn jetzt, wo sie einen gebieterischen Drang nach Liebe empfand, konnte sie diesem Drange nicht folgen, weil sie den einzigen Mann, den sie lieben durfte, verachtete.
    Als ihr dies klar wurde, jammerte sie laut und verzweifelte am Glück.
    Auf derartige Krisen folgten Anwandlungen von moralischer Erschlaffung und Feigheit. Sie glaubte dann, ihre Kraft würde nicht hinreichen, solch ein Leben lange zu ertragen, und fürchtete sich vor der Vereinsamung. Da entspann sich ein Kampf zwiespältiger Gefühle in ihrem Innern. Ihr Pflichtgefühl als Gattin, ihr sittlicher Stolz erhob Einspruch gegen die Forderung des darbenden Herzens, das nach Liebe lechzte und ihr riet, sich in die Arme eines andern Mannes zu flüchten.
    Es gab jetzt Tage, wo sie sich darauf berief, daß die Liebe frei sein soll, und daß die Gesetze der Menschen sie nicht bloß auf die hochmütige Gleichgültigkeit ihrer Mädchenzeit verweisen dürften. Aber den nächsten Tag erhob dann wieder die Pflicht ihre Stimme und dann schauderte sie vor der Sünde zurück und nahm ihr Kreuz auf sich als eine gerechte Strafe für ihre ehemalige Verblendung.
    Beinahe sechs Monate lang dauerte dieser Kampf, der sie zu zermalmen drohte. Jeden Morgen kam sie, trotz alles Sträubens, dem Abgrund einen Schritt näher. Sie klammerte sich überall an, sie stemmte sich rückwärts; aber der Schwindel packte sie und riß sie fort. Schon war sie nahe daran zu fallen, als Daniel wieder auf ihrem Lebensweg erschien.
    Der junge Mann erriet beim ersten Anblick ihrer heißen roten Augen, daß sie große Seelenqualen zu erdulden hatte. Andrerseits bemerkte er bei Lorin die ersten Spuren der Dickleibigkeit und Vertrottelung. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, er solle Streit mit ihm anfangen, sich mit ihm duelliren und ihn über den Haufen stechen, damit seine Frau ihn los würde.
    Er hielt diesen Plan nicht fest, sah sich aber veranlaßt, sein Innres zu prüfen, und erkannte darin mit Schrecken, daß die Liebe wieder Gewalt über ihn bekam.
    In der That verwandte er den ganzen Abend kein Auge von Jeanne, beobachtete mit unsäglichem Wohlgefallen jede ihrer Bewegungen und vergaß darüber alles um sich her. Da bemerkte er, daß Jeanne die Augen fortwährend nach der Thür hinwandte. Offenbar erwartete sie Jemand und er hatte bei diesem Gedanken die Empfindung, als fahre ihm ein glühendes Eisen durch die Brust. So viel war ihm klar, daß die junge Frau sich in einem fieberhaften Zustande befand; sie erschauerte oft, jedenfalls war der Entscheidungskampf nahe. Da trat Daniel auf sie zu und knüpfte ein Gespräch über die Billeggiatur in Le Mesnil-Rouge an:
    »Entsinnen Sie sich noch jener schönen, milden Abende? Wie angenehm kühl war es unter den Bäumen und eine wie friedliche Stille senkte sich vom Himmel herab!«
    Jeanne lächelte bei der Erinnerung an jene friedvolle Zeit.
    »Ich bin wieder in Le Mesnil-Rouge gewesen,« sagte sie, »und habe an Sie gedacht. Es war Niemand da, der mich nach den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher