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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden
Autoren: Émile Zola
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den wahren Grund der ruhigeren Gemütsstimmung, die ihn während der ganzen Zeit beherrscht hatte. Wie glücklich hatte er sich gefühlt, bloß weil er seinen Seelenzustand nicht kannte! Wie wohl war ihm gewesen, da er als Vater über die Geliebte zu wachen glaubte. Jetzt wußte er Bescheid; jetzt quälten ihn Gewissensbisse und nagte die Liebesleidenschaft an seinem Herzen.
    Er warf sich auf den Boden hin, ohne des Regens zu achten, der ihn durchkältete. Durch seine Seelenpein, durch die Schimpfreden, die er an sich selber richtete, durch das Schamgefühl, das ihn niederdrückte, zog sich unausgesetzt der grausame, fürchterliche Gedanke hin, daß Jeanne einem Andern gehören würde. Vergebens wollte er dies Bild aus seiner Seele bannen, sein Verlangen nach ihr ertöten, vergebens rief er die Erinnerung an seine gute Heilige wach: Jeanne und Lorin schwebten ihm immer vor Augen, verhöhnten seinen Schmerz mit ihrem jugendlichen Lächeln. Da drohte ihm der Kopf zu bersten, da wurde es ihm rot vor den Augen. Auf diese Weise brachte er einen Teil der Nacht hin, bis die Raserei nachließ, um einer allgemeinen Dumpfheit Platz zu machen. Am Morgen stieg die Ueberzeugung in ihm auf, daß er bei den Telliers nichts mehr zu suchen habe, daß es mit dem Kampf zu Ende, daß er unterlegen sei. Er fügte sich feige in die herbe Thatsache und sehnte sich nur nach Ruhe. Er reiste auch wirklich allein ab und kam in Paris einige Stunden vor den andern Gästen von Le Mesnil-Rouge an.
    Hier begab er sich sofort zu Georg, der sich aller Fragen enthielt, und lebte, wohnte, an Leib und Seele gebrochen, mehrere Monate bei ihm. Nur ein einziges Mal ging er nach der Rue d’Amsterdam, um von dem Abgeordneten Abschied zu nehmen. Im Grunde genommen trieb ihn ein unwiderstehlicher Wunsch, den er sich nicht eingestehen mochte, nach jenem Hause: Er empfand nämlich das Bedürfnis, den Hochzeitstag genau zu erkunden; er konnte die Ungewißheit nicht länger ertragen. Als er indeß seine Neugierde befriedigt hatte, härmte er sich noch mehr. Er zählte nun die Tage, und jede Stunde, die ihn dem Unglücksdatum näher brachte lastete mit immer schwererem Druck auf ihm.
    Er hatte sich fest vorgenommen, der Feierlichkeit nicht beizuwohnen. Aber am Abend vor dem schrecklichen Tage packte ihn ein Fieber, das ihn wider seinen Willen nach der Kirche trieb. Hier kämpfte er, hinter einem Pfeiler versteckt, so zu sagen einen Todeskampf, so fürchterlich jagten sich allerhand Schreckbilder in seinem überreizten Hirn herum.
    Als er nach Hause kam, glaubte Georg, er sei betrunken, und brachte ihn wie einen kleinen Knaben zu Bette.
    Aber am nächsten Morgen stand Daniel trotz des Fiebers auf und erklärte, er werde Paris verlassen und an die See, nach Saint-Henri, zurückkehren, wo er Angesichts des weiten Horizonts so still und ruhig gelebt hatte. Vergebens widersetzte sich Georg diesem Vorhaben, da er ihn für zu schwach hielt; Daniel beharrte hartnäckig bei seinem Entschlusse und nun bat ihn Georg inständigst um die Erlaubnis, ihn wenigstens begleiten zu dürfen. Daniel wies auch diesen Vorschlag und jeden Trost ärgerlich zurück. Er sehnte sich nur nach Einsamkeit. Er reiste also, ohne dem trostlosen Freunde irgend eine Aufklärung gegeben zu haben.
    Als er die blauen Fluten des unermeßlichen Meeres vor sich liegen sah, wurde ihm ruhiger zu Mute; nur eine tiefe Traurigkeit blieb zurück. Er mietete sich ein Zimmer, dessen Fenster auf die See hinausging, und lebte hier ein Jahr lang unthätig, ohne Langeweile zu empfinden und sich Sorgen darum zu machen, daß seine geringen Ersparnisse bedenklich zusammenschmolzen.
    Oft verharrte er vom Morgen bis zum Abend unbeweglich Angesichts des Meeres, dessen Wogen gleichsam einen Widerhall in seiner Brust fanden und seine Gedanken einlullten. Er setzte sich gern auf einen Felsgipfel, den Rücken den Lebenden zugekehrt, und vertiefte sich in die Unendlichkeit, bis das Getöse der Wogen sein Erinnerungsvermögen eingeschläfert hatte und er sich dem Glück der Ekstase hingeben, mit offnen Augen schlafen konnte. Wenn er sich in diesem Zustande befand, unterlag er einer eigentümlichen Sinnestäuschung. Er glaubte, der Spielball der Fluten zu sein, bildete sich ein, das Meer sei bis zu ihm hinaufgestiegen und schaukle ihn sanft auf seinen Wellen.
    Diese fortgesetzte Beschaulichkeit, diese Vernichtung seines ganzen Seins brachte endlich dem kranken Herzen Linderung. Die Trauer wich, er umfing Jeanne’s Bild nicht
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