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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden
Autoren: Émile Zola
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Inseln hinüberruderte.«
    In demselben Augenblick wandte sie sich wieder rasch nach der Thür hin. Daniel fühlte abermals einen brennenden Schmerz in der Brust; er sah sich um und erblickte einen hochgewachsenen jungen Mann, der auf der Schwelle stand und lächelnd einen klaren Blick in den Salon hineinsandte.
    Dieser junge Mann bemerkte Lorin, ging auf ihn zu und begrüßte ihn mit übertriebener Freundlichkeit, unterhielt sich scherzend mit ihm und kam dann auf Jeanne zu. Die junge Frau erbebte.
    Daniel trat zurück und musterte den Ankömmling. Es wurde ihm nicht schwer, ein Urteil über ihn zu fällen: Er gehörte zu derselben Klasse von Menschen, wie von Rionne, nur daß er die schiefe Ebene noch nicht hinuntergeglitten war. Offenbar hatte sich Jeanne nur durch die Eleganz und die glatte Beredsamkeit des Taugenichts bestechen lassen.
    Die Beiden tauschten einige Höflichkeitsphrasen aus, wobei die junge Frau Unruhe und Ungeduld bezeigte, als wartete sie mit Spannung auf etwas, das er zu ihr sagen sollte. Daniel bedachte nicht, daß er sich schicklicher Weise hätte entfernen sollen, sondern wartete gleichfalls und blickte, Argwohn und Verzweiflung im Herzen, auf Jeanne.
    Der junge Mann achtete nicht auf den zudringlichen Dritten, dessen verhaltenen Mißmut er nicht einmal bemerkte, und plauderte ruhig weiter, plötzlich aber neigte er sich mitten in einer banalen Rede rasch zu Jeanne nieder und sagte mit gedämpfter Stimme:
    »Gnädige Frau, gestatten Sie, daß ich morgen komme?«
    Jeanne erblaßte und wollte eben antworten, als ihr Blick auf Daniels strengem und verstörtem Gesicht haften blieb. Da erzitterten ihre Lippen; sie fuhr zurück, besann sich eine Weile und ging davon, ohne eine Antwort gegeben zu haben. Der junge Mann aber drehte sich auf den Fersen herum und murmelte:
    »Ich sehe schon, die Frucht ist noch nicht reif, ich muß warten.«
    Daniel, der alles gehört und verstanden hatte, trat der kalte Schweiß an den Schläfen heraus. Er glich einem Menschen, der soeben einer großen Gefahr entronnen ist und aufatmet, aber sich noch umsieht, ob wirklich nichts mehr zu fürchten ist.
    Noch war ihm aber beklommen zu Mute, und da er frischer Luft bedurfte und in dem schwülen Salon nicht nachdenken konnte, suchte er Georg auf und nötigte ihn, mit ihm auf die Straße hinauszugehen.
    Georg willfahrte ihm, aber mit Widerstreben. Es gefiel ihm in dem Hause, in der Nähe der jungen Frau, die mit ihren großen Augen so traurig dreinschaute, daß er sich tief bewegt davon fühlte. Wäre Lorin nicht da gewesen und hätte ihm seine tiefe Bewegung verdorben, so wäre er ganz gern geblieben und hätte Jeanne immerzu angesehen.
    »Warum in aller Welt läufst Du so davon?« fragte er seinen Freund auf der Straße.
    »Ich kann Lorin nicht leiden,« stotterte Daniel.
    »Ich auch nicht, aber ich hätte doch noch gern wissen mögen, warum seine Frau immer so schwermütig, so leidend aussieht. Wir besuchen sie aber öfter, nicht wahr?«
    »Ja freilich!«
    Sie legten den Heimweg zu Fuß zurück. Georg war nachdenklich und hatte ab und zu unbekannte Empfindungen, die ihm das Blut heiß und schnell ins Gesicht emportrieben, und gleichzeitig hing er lieblichen Träumereien nach, was bei ihm etwas ganz neues war. Daniel ging gesenkten Hauptes und mit schnellen Schritten, um so bald wie möglich allein sein zu können.
    Als er in seinem Zimmer angelangt war, setzte er sich nieder und weinte los. Er machte sich Vorwürfe, weil er zu spät gekommen sei. Denn er fühlte wohl, daß Jeanne sich noch nicht vergangen hatte, wußte aber nicht, wie er es anfangen sollte, um der Gefahr sofort und energisch zu begegnen. Es fielen ihm jetzt wieder die Worte ein, die seine Wohlthäterin auf dem Sterbebett zu ihm geredet hatte: »Als Mann werden Sie sich einst meiner erinnern und dann werden Sie inne werden, wie furchtbar eine Frau leiden kann. — Ich weiß, wie schwer die Einsamkeit zu ertragen ist und wieviel Energie dazu gehört, um nicht auf Abwege zu geraten.« Und nun war es eingetroffen: Jeanne ermangelte der sittlichen Energie und war im Begriff, Abwege zu betreten.
    Daniel hatte schon zu viel gelitten, um sich noch betrügen zu können. Er sah ein, daß die Liebe von Neuem sein Innerstes beherrschte, und nur aus Schamgefühl, aus Feigheit sagte er es nicht laut. In Le Mesnil- Rouge hatte er in einer finstern Nacht im kalten Regen einen ähnlichen Anfall gehabt. Damals wollte er in der Raserei der Eifersucht Jeanne vor Lorin
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