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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden
Autoren: Émile Zola
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sehen.«
    Und nun schüttete sie plötzlich ihr ganzes Herz aus, ohne danach zu fragen, daß Daniel noch ein halbes Kind war. Ihre arme, leidbedrückte Seele sehnte sich nach einer Erleichterung, und so offenbarte sie jetzt auf dem Sterbebett, was sie ihr Leben lang in sich verschlossen hatte. Die glühende und demütige Verehrung, die der junge Mann ihr entgegenbrachte, hatten ihren stoischen Sinn erweicht. Sie freute sich nur, daß sie endlich beichten, daß sie einem teilnahmsvollen Herzen alle die seit so langer Zeit angesammelten Bitternisse, ehe sie die Erde verließ, erzählen konnte. Nicht, daß sie klagen wollte, sie wollte nur eine Last von ihrem Herzen wälzen.
    »Ich habe ein einsames und thränenreiches Leben gehabt,« sagte sie. »Dies muß ich Ihnen sagen, damit Sie meine Aengste begreifen. Sie kennen mich nur als eine Glückliche; ich war in Ihren Vorstellungen eine Göttin, die aller Paradieseswonnen teilhaftig sein müßte. Ach, ich bin nur ein armes Weib, das lange Jahre hindurch schweren Kummer zu tragen hatte. Ich erinnere mich weinend der Freuden meiner Jugend. Eine wie schöne Kindheit habe ich in meiner Provence verlebt! Dann war ich auch stolz, wollte den Kampf ums Dasein tapfer bestehen, bin öfter mit blutendem Herzen aus diesem Kampf hervorgegangen.
    Daniel horchte hoch auf; aber er erfaßte nur halb den Sinn ihrer Worte und dachte, das Delirium habe schon begonnen.
    »Ich heiratete einen Mann,« fuhr sie fort, »den ich nicht auf die Dauer lieben konnte und der mich bald der Einsamkeit meiner Mädchenzeit wiedergab. Ich mußte also meinem Herzen Schweigen gebieten. Mein Mann nahm die Gewohnheiten seines Junggesellenlebens wieder auf. Ich kam nur bisweilen bei Tische mit ihm zusammen und wußte, daß sein ganzer Lebenswandel eine fortwährende Beleidigung meiner Frauenwürde war. Ich lebte mit meiner Tochter von der Welt abgeschieden in meinen Zimmern, wie in einem Kloster, und gelobte, daß ich hinfort mein Leben darin zubringen wollte. Manchmal indessen empörte sich mein ganzes Sein und es kostete mir viele geheime Seelenqualen, um heiter und glücklich zu scheinen.«
    »Wie?« dachte Daniel, »geht es so in der Welt zu? Meine gute Heilige hat leiden müssen! Die ich mir als ein höheres, seliges Wesen vorstellte, weinte Thränen des Elends, während ich sie auf den Knieen anbetete! Giebt es denn hier auf Erden nur Schmerz und Jammer? Der Himmel verschont ja nicht einmal die Edlen, die seiner würdig sind. In was für einer schrecklichen Welt leben wir denn? Wenn sich meine Gedanken zu ihr emporschwangen, meinte ich, ihre Güte schütze sie gegen alles Leid. Sie war für mich eine heitere Lichtgestalt, eine Heilige mit einer Glorie um das Haupt und einem friedlichen Lächeln um die Lippen. Und nun höre ich, daß sie Thränen vergossen, daß ihr Herz geblutet hat, so wie meins, daß sie so unglücklich und vereinsamt in der Welt da steht wie ich!«
    Sein Innerstes fühlte sich tief verletzt. Er schwieg erschrocken über die Leiden, die er ahnte. War es doch der erste Fortschritt, den er in der Wissenschaft des Lebens machte, und so bäumte sich seine Unerfahrenheit auf gegen die Ungerechtigkeit des Unglücks. Er wäre nicht so erbebt, wenn es sich um ein weniger teures Haupt gehandelt hätte; aber die grausame Wirklichkeit offenbarte sich ihm, indem sie das einzige Wesen, das er liebte, mißhandelte. Zudem beschlich ihn auch ein banges Gefühl bei dem Gedanken, daß er von nun an selber thätigen Anteil an den Kämpfen des Lebens nehmen müsse. Gleichwohl trieb ihn sein Drang nach Selbstverleugnung energisch an, die letzte Beichte seiner Wohlthäterin aufmerksam anzuhören. Handelte es sich doch um die letzte Willensmeinung einer Sterbenden, die ihm seine Pflicht für sein ganzes Leben vorschrieb.
    Frau von Rionne erriet aus seinem Stillschweigen, was in ihm vorging, und bedauerte, daß sie den Frieden dieses kindlichen Gemüts zerstören mußte. Ihrer edlen Eitelkeit wäre es lieber gewesen, wenn sein Gedächtnis von ihr nur ein ungetrübtes, übermenschlich hehres und schönes Bild behalten hätte.
    »Ich erzähle Ihnen eine traurige Geschichte,« fuhr sie in ihrem sanftesten Tone fort, »und weiß nicht einmal, ob Sie mich richtig verstehen. Aber Sie müssen mir verzeihen, denn mein Mund thut sich von selbst auf. Ich beichte Ihnen wie einem Priester, und ein Priester hat kein Alter, er ist nur eine Seele, die eine andre anhört. Sie sind jetzt noch ein Kind und meine Worte flößen
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