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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden
Autoren: Émile Zola
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sie mit der Selbstachtung allein nicht mehr zufrieden gewesen; sie hätte als zweite Stütze ihres Glückes noch die Liebe hinzugenommen.
    Als sie drei Jahre verheiratet war, starben ihre Eltern und nun stand sie, da sie sonst keine Verwandten mehr hatte, so einsam und hilflos wie eine Waise da. Da genoß sie mit herbem Vergnügen ihre Verlassenheit, deren Bitterkeit ihr damals einjähriges Töchterchen in hohem Grade milderte. Dieses Kind brachte ihr unter anderer Gestalt alle zarten Freuden der Liebe. Die Zuneigung zu einem menschlichen Wesen genügt ein Dasein auszufüllen und diese notwendige und tröstliche Zuneigung widmete sie ihrer Kleinen.
    Fünf Jahre lang lebte sie so zu sagen allein mit ihrer Jeanne. Denn sie duldete Niemand in der Nähe des Kindes, bediente sie sogar wie ein Kindermädchen, und leitete ihre Erziehung ausschließlich. Sie ging mit ihr spazieren, spielte mit ihr, suchte ihren Verstand und ihr Herz zu bilden. Ihr Leben hatte nur noch einen Zweck, sie existirte nur für und durch ihr Kind. Wie viel Träumen hing sie nach in dieser freiwilligen Einsamkeit! Während Jeanne zu ihren Füßen spielte, beobachtete die Mutter sie und studirte ihren Charakter. Sie wollte sie vor allen Dingen zur Rechtschaffenheit erziehen, ihr den Weg zum Glücke bahnen; indem sie sich vornahm, sie stets als Ratgeberin und Vorbild zu begleiten.
    Mit Hilfe ihrer Einbildungskraft versetzte sie sich auch sogar schon oft in jene Zeit, wo Jeanne verheiratet und glücklich sein würde. Denn wenn ihr das Glück in der Ehe versagt geblieben war, so mußte sie es doch für ihre Tochter erträumen. Daß der Tod kommen und sie von ihr trennen könnte, nahm sie nie in ihre Rechnung auf.
    Um so furchtbarer war ihr daher das Erwachen aus ihren Träumen, als das Unerwartete nun dennoch geschah, und wieder um so willkommener war ihr dann Daniel als Testamentsvollstrecker ihrer mütterlichen Liebe.—
    Während Frau von Rionne in den letzten Zügen lag, verweilte ihr Gemahl bei Fräulein Julia, einem reizenden Geschöpf, das ihn nicht langweilte, ihn aber verteufelt viel Geld kostete. Er wußte sehr wohl, daß seine Frau krank war; erklärte aber, um nicht allzu betrübt sein zu müssen, es handle sich nur um eine geringfügige Unpäßlichkeit und es gelang ihm auch leicht genug, sich einzureden, daß er sein gewöhnliches Leben weiter leben könne und sich keine Sorge zu machen brauche.
    Dies war die Art dieses netten Mannes, dessen Börse allen Hülfsbedürftigen offen stand. Er konnte einem Armen hundert Franken auf einmal hinwerfen; aber ein einziges Amüsement zu opfern, vermochte er nicht über sich zu gewinnen. Er mied alle peinlichen Aufregungen; da er aber der Herzensgüte, die er wirklich besaß, nicht zu nahe treten mochte, so suchte und fand er Gründe, um sich zu beweisen, daß Alles in Ordnung sei.
    Am Morgen hatte er den Arzt gesprochen und bereute nun, ihn zu genau ausgefragt zu haben. Denn der Doktor hatte ihm nicht verhehlt, daß der Tod jeden Augenblick eintreten könne. Bei dieser schonungslosen Ankündigung war es ihm eisig kalt durch die Adern gelaufen, denn ihm graute vor dem Tode; er konnte das Wort nicht ohne einen Schauder aussprechen hören. Außerdem war ihm sofort eingefallen, daß ein Todesfall immer eine langweilige Geschichte ist. Er erlangte ja wohl seine Freiheit wieder, aber was für Unannehmlichkeiten! Welche unliebsame Störung seiner Gewohnheiten brachte die Beerdigung und die Notwendigkeit, Anstands halber seinen Vergnügungen zu entsagen, und wer weiß was noch! Kurz, sein Leichtsinn sowohl, wie seine Weichmütigkeit bebten vor der nahen Katastrophe zurück und daher hatte er, statt der schrecklichen Wirklichkeit in die Augen zu sehen, den Arzt ausgelacht. Nicht möglich! Wie könne seine Frau so plötzlich sterben, da Sie vor vierzehn Tagen doch noch gesund und munter gewesen sei! Aber er brachte diese nichtigen Einwände hastig, unsicher, in abgebrochenen Sätzen vor, ein Zeichen, daß er gegen eine innere Unruhe ankämpfen mußte, um das seelische Gleichgewicht, aus dem man ihn herausdrängen wollte, wiederzugewinnen.
    Gegen Abend endlich flüchtete er sich in aller Eile zu Julia. Aber er war nicht ohne Sorge und wandte sich von Zeit zu Zeit um, als erwarte er jemand, der ihm eine schlechte Nachricht bringen würde. Wenn er mehrere Tage lang sein geliebtes Laster meiden sollte, so dachte er, würde er bei möglichster Eile Zeit genug haben, es noch einmal in seine Arme zu schließen. Es
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