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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden
Autoren: Émile Zola
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nach ihrer Tochter. Da ihr Mann sich nicht rührte, so ging Daniel, der noch stumm in der Fensternische stand und seine Thränen niederkämpfte, und suchte Jeanne, die er im Nebenzimmer beim Spiel fand. Die arme Mutter betrachtete mit weit aufgerissenen Augen, wie geistesgestört, ihr Kind und wollte die Arme nach ihr ausbreiten. Aber sie konnte sie nicht mehr emporheben und Daniel mußte Jeanne, die sich mit den Füßchen gegen das Bettgestell anstemmte, fest halten.
    Die Kleine weinte nicht und betrachtete nur mit naivem Erstaunen das verstörte Gesicht der Mutter.
    Dann aber, als sich der Friede auf dieses Antlitz senkte, als es sich allmählich mit himmlischer Freude erfüllte und von Milde erstrahlte, erkannte das Kind das gütige Lächeln wieder und lächelte gleichfalls, während sie ihre Händchen nach der Mama ausstreckte. Und so starb Blanca, mit einem Lächeln auf dem Antlitz und mit dem Lächeln ihres Kindes vor Augen.
    Ihren letzten Blick richtete sie auf Daniel, flehend und gebieterisch zugleich. Der junge Mann hielt Jeanne aufrecht und machte so den Anfang mit der Erfüllung, seines Versprechens. Als seine Frau verschieden war, fiel von Rionne auf die Knie nieder, denn er erinnerte sich, daß es bei solchen Gelegenheiten die Schicklichkeit vorschreibt, niederzuknien. Der Arzt war eben gegangen und eine der Krankenwärterinnen zündete eilends zwei Kerzen an. Der Geistliche, der aufgestanden war, um Blancas Lippen das Kruzifix darzubieten, nahm seine Gebete wieder auf.
    Daniel behielt noch eine Weile Jeanne in seinen Armen; dann ging er, da die Luft in dem Sterbezimmer stickig wurde, in das Gemach nebenan und weinte dort still, während das kleine Mädchen sich damit amüsirte, den Laternen der Droschken und Equipagen nachzublicken. Die Luft war windstill. In der Ferne hörte man die Signalhörner der Militärschule, die den Zapfenstreich bliesen.
     

III.
    Gegen Tagesanbruch begab sich Daniel wieder auf sein Zimmer.
    Der große achtzehnjährige Mensch besaß noch das Herz eines Kindes und sein liebevolles Gemüt hatten die eigenartigen Umstände, in denen er sich befand, so exaltirt, daß seine Opferfreudigkeit einen lächerlichen Anstrich annahm.
    Er war, wie man gemerkt haben wird, das Waisenkind, über dessen Rettung der »Semaphore« seiner Zeit berichtet hatte. Blanca von Rionne, seine unbekannte junge Gönnerin, ließ ihn erziehen und schickte ihn, als er so weit herangewachsen war, auf das Gymnasium zu Marseille. Sie zeigte sich ihm während der ganzen Zeit nur selten, denn sie wollte, daß er sie möglichst wenig kennen und so zu sagen nur der Vorsehung dankbar sein sollte. Demgemäß erwähnte sie auch nicht, als sie heiratete, ihren Adoptivsohn von Rionne gegenüber. Was sie für ihn that, war ja nur eins der vielen christlichen Liebeswerke, die sie geheim zu halten gewohnt war.
    Auf dem Gymnasium forderte Daniels linkisches Wesen und seine bei Waisenkindern gewöhnliche Blödigkeit den Spott seiner Kameraden heraus. Natürlich ging es ihm tief zu Herzen, daß er eine Pariarolle spielen mußte, aber seine Unbeholfenheit nahm dabei noch zu. Er schloß sich auch noch mehr von den Andern ab und bewahrte sich so eine seltne Unschuld der Seele. Auf diese Weise entging er der Verderbniß, in der sich die reiferen Knaben gegenseitig zu unterweisen pflegen; aber dafür blieb er auch unerfahren und lernte das Leben nicht kennen.
    In der Vereinsamung, die er seiner Blödigkeit verdankte, faßte er eine glühende Liebe zur Arbeit und zwar trieb ihn seine lebhafte, leidenschaftliche Einbildungskraft, die ihn für die Poesie hätte begeistern sollen, zum Studium der Mathematik und Naturwissenschaften, die seine heiße Sehnsucht nach Wahrheit besser befriedigten.
    Es machte ihm ein inniges Vergnügen sich in der scharf umgrenzten Welt der Zahlen zu bewegen, die Wahrheit Schritt für Schritt zu erforschen, sich nur mit endgültig und vollständig gelösten Aufgaben zu begnügen. Er dichtete so auf seine Weise.
    Sein Charakter und die Umstände wiesen ihn also immer mehr auf sich selbst an und lehrten ihn nur an einem beschaulichen Leben Gefallen finden. In der Wissenschaft war ihm wohl zu Mute, weil sie ihn nicht mit den Menschen in Berührung brachte, weil sie ihn die Kameraden vergessen ließ, die ihn wegen seiner gelben Haare hänselten. Jeder Umgang mit Menschen flößte ihm Furcht ein; er zog ein höheres Leben vor, wollte sich nur in der reinen Spekulation, in der absoluten Wahrheit bewegen. In
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