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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen
Autoren: Rafik Schami
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außer dir, hast du etwas angestellt?«, fragte die Mutter.
    »Nein«, antwortete Nura.
    »Komm her«, sagte die Mutter, »ich werde alles von deiner Stirn ablesen.« Nura bekam fürchterliche Angst, und die Mutter las und las und dann sagte sie: »Du kannst gehen, du hast nichts Schlimmes getan.«
    Jahrelang glaubte Nura, dass ihre Mutter ihr die Untaten von der Stirn ablesen könne, deshalb schaute sie nach jeder Begegnung mit dem dicklichen Jungen in den Spiegel, um zu sehen, ob irgendetwas auf der Stirn zu sehen war. Sie schrubbte sie sicherheitshalber mit Olivenkernseife und wusch sie danach gründlich ab.
    Überhaupt war ihre Mutter sonderbar. Sie schien sich für die ganze Welt verantwortlich zu fühlen. Einmal nahm ihr Vater Nura und die Mutter zu einem Fest mit, bei dem Derwische tanzten, und selten fühlte sich Nura so leicht wie an jenem Abend. Auch ihr Vater schien zu schweben vor Glückseligkeit. Der eine Derwisch tanzte mit geschlossenen Augen und die anderen kreisten um ihn wie Planeten um die Sonne. Ihre Mutter aber sah nur, dass sein Kleid an mehreren Stellen schmutzig war.
     
    An religiösen Festen schmückten ihre Eltern und die Muslime der ganzen Straße ihre Häuser und Geschäfte mit bunten Tüchern. Teppiche hingen aus den Fenstern und von Balkonen, Blumentöpfe wurden vor die Hauseingänge gestellt. Prozessionen zogen singend und tanzend durch die Straßen. Manche zeigten Schwert- und Bambusrohrkämpfe, andere veranstalteten ein Feuerwerk und aus den Fenstern regnete es Rosenwasser auf die Passanten.
    Die Christen feierten leise, ohne bunte Fahnen und ohne Umzüge. Diesen Unterschied hatte Nura sehr früh bemerkt. Nur die Kirchenglocken schlugen an jenen Tagen etwas lauter. Man sah die Christen in festlichen Kleidern, aber es gab weder einen Jahrmarkt noch ein Riesenrad oder bunte Fahnen.
    Auch kamen die christlichen Feiertage immer zur gleichen Jahreszeit. Weihnachten Ende Dezember und Ostern im Frühjahr und Pfingsten im Frühsommer. Der Ramadan aber wanderte durch das ganze Jahr. Und wenn er im Hochsommer kam, war es kaum auszuhalten. Sie musste von morgens bis abends ohne ein Stück Brot, ohne einen Schluck Wasser ausharren und das bei vierzig Grad im Schatten. Maurice hatte Mitleid mit ihr. Er flüsterte ihr zu, auch er faste heimlich, damit er sich genauso elend fühle wie sie.
    Sie vergaß nie den Tag, als Maurice ihr zuliebe eine kleine Verwirrung auslöste. Sie war bereits vierzehn und der Ramadan war in jenem Jahr im August. Sie fastete und litt. Plötzlich hörten die Nachbarn deutlich die Muezzinrufe und stürzten sich auf das Essen. Nur ihre Mutter sagte: »Das kann doch nicht stimmen! Dein Vater ist noch nicht zu Hause und die Kanone wurde noch nicht abgefeuert.«
    Eine halbe Stunde später hörte man dann die Rufe der Muezzins über den Dächern und ein Kanonenschuss erschütterte die Luft. Ihr Vater, der bald darauf hereinkam, erzählte, die Leute hätten wegen eines falschen Muezzins das Fasten zu früh gebrochen. Nura wusste sofort, wer dahintersteckte. Eine Stunde später klopften zwei Polizisten bei der christlichen Familie, es gab Geschrei und Tränen.
    Von allen Festen und Feiertagen mochte Nura den siebenundzwanzigsten Tag des Ramadan am liebsten. An diesem Tag öffne sich der Himmel und Gott höre für kurze Zeit die Wünsche der Menschen, sagte ihr Vater. Seit sie denken konnte, war sie jedes Jahr schon Tage vorher unruhig, sie überlegte und überlegte, was sie sich von Gott wünschen solle.
    Nie hatte er ihr auch nur einen einzigen Wunsch erfüllt.
    Gott schien sie nicht zu mögen. Doch der dicke Maurice erklärte ihr, Gott möge mit Sicherheit schöne Mädchen, er könne aber ihre Stimme nicht hören. Und Maurice wusste auch warum: »Die Erwachsenen beten in dieser Nacht so laut, dass Gott Kopfschmerzen bekommt und den Himmel schließt, noch bevor er ein einziges Kind gehört hat.«
    Und in der Tat versammelte ihr Vater seine Verwandten und Freunde im Hof und bat mit ihnen zusammen Gott laut um Vergebungihrer Sünden und Erfüllung der Wünsche nach Glück und Gesundheit. Nura blickte auf die Versammelten und wusste, dass Maurice recht hatte. Da rief sie einmal mitten im Gebet laut aus: »Aber für mich kannst du, lieber Gott, ja einen Eimer Vanilleeis mit Pistazien schicken.« Die Betenden lachten und konnten trotz wiederholter Versuche nicht weiterbeten, denn immer wieder unterbrach einer das Gebet mit schallendem Gelächter.
    Nur Nuras Mutter fürchtete sich vor
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