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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen
Autoren: Rafik Schami
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christlichen Dorf im Süden, nach Damaskus gekommen war. Das zweite kleinere Zimmer ergatterte der Vater nach einem Faustkampf mit den Konkurrenten, die es, noch bevor die Leiche der alten Bewohnerin zum Friedhof gebracht worden war, besetzen wollten. Jeder trug seine Geschichte vor, die auf unbeholfene Art beweisen sollte, dass es der einzige Wunsch der Verstorbenen gewesen sei, ihm, dem jeweiligen Erzähler, die Wohnung zu überlassen, damit ihre Seele Ruhe habe. Manche machten die Tote zu einer entfernten Tante, andere behaupteten, sie schulde ihnen Geld, aber man sah es den Händen dieser Lügner an, dass sie nie zu Geld gekommen waren. Als alle Geschichten von ihren Zuhörern als Lügen entlarvt worden waren und die heiseren Stimmen immer lauter wurden, entschieden die Fäuste – und da war Salmans Vater unbesiegbar. Er schickte alle Konkurrenten erst zu Boden und dann mit leeren Händen zu ihren Frauen.
    »Und dann hat dein Vater die Mauer zwischen beiden Zimmern miteiner Tür durchbrochen und schon hattet ihr eine Zweizimmerwohnung«, erzählte Sarah Jahre später. Faises Tochter wusste über alles Bescheid, deshalb wurde sie von allen »Sarah die Allwissende« genannt. Sie war drei Jahre älter und einen Kopf größer als Salman.
    Sie war außerordentlich klug und konnte noch dazu am schönsten von allen Kindern tanzen. Das hatte Salman durch Zufall erfahren. Er war acht oder neun und wollte sie zum Spielen abholen, da sah er sie in ihrer Wohnung tanzen. Er stand regungslos in der offenen Tür und schaute ihr zu, wie sie ganz in sich versunken war.
    Als sie ihn entdeckte, lächelte sie verlegen. Später dann tanzte sie für ihn, wenn er traurig war.
    Eines Tages schlenderten Salman und Sarah zur großen Geraden Straße, wo Sarah für ihre fünf Piaster ein Eis am Stiel kaufte. Sie ließ ihn immer wieder daran lecken unter der Bedingung, dass er kein Stück abbiss.
    Sie standen am Eingang ihrer Gasse, leckten am Eis und beobachteten die Kutschen, Lastenträger, Pferde, Esel, Bettler und fliegenden Händler, die die lange Gerade Straße zu dieser Stunde bevölkerten. Als vom Eis nur noch der gefärbte Holzstil und die roten Zungen in ihren kühlen Mündern übrig waren, wollten sie nach Hause gehen. Da versperrte ein großer Junge ihnen den Weg: »Ich kriege einen Kuss von dir«, sagte er zu Sarah. Er beachtete Salman nicht.
    »Iiiiih«, rief Sarah angeekelt.
    »Du kriegst nichts«, rief Salman und sprang zwischen Sarah und den Koloss.
    »Ach, Mücke, mach mal Platz, sonst zerdrücke ich dich«, sagte der Junge, schob Salman zur Seite und packte Sarah am Arm, aber Salman sprang ihm auf den Rücken und biss ihn in die rechte Schulter. Der Junge schrie auf und schleuderte Salman gegen die Mauer, und auch Sarah schrie so laut, dass die Passanten aufmerksam wurden und der Kerl in der Menge verschwinden musste.
    Salman blutete am Hinterkopf. Man brachte ihn schnell zum Apotheker Josef an der Kischle-Kreuzung, der die Augen verdrehte und ihm den Kopf verband, ohne dafür Geld zu verlangen.
    Es war nur eine kleine Platzwunde, und als Salman aus der Apothekeherauskam, schaute Sarah ihn verliebt an. Sie nahm ihn an der Hand und ging mit ihm zusammen nach Hause.
    »Morgen darfst du abbeißen«, sagte sie beim Abschied. Er hätte es zwar lieber gehabt, wenn Sarah einmal nur für ihn allein tanzen würde, aber er war viel zu schüchtern, um so etwas über die Lippen zu bringen.
     
    Nun zurück zu jener schwierigen Geburtsstunde und zur alten Dienerin Olga, die wie vom Teufel bestellt erschienen war. Sie war in Schlafrock und Hausschuhen herbeigeeilt und hatte die Hebamme angefleht, zu ihrer Herrin zu kommen, da die Fruchtblase bereits geplatzt sei. Die Hebamme, eine hübsche Frau, an deren frischer Erscheinung die vierzig Jahre ihres Lebens spurlos vorübergegangen waren, betreute seit Monaten die sensible und immer ein wenig kränkelnde Ehefrau des reichen Gewürzhändlers und bekam für jeden Besuch so viel Geld, wie zehn arme Familien nicht zahlen konnten. Und im gefährlichsten Augenblick wolle sie ihre Herrin wohl im Stich lassen, knurrte Olga unverschämt laut, drehte sich um und schlurfte, über das undankbare Gesindel schimpfend, davon. Faise schickte der alten Frau zwei Zaubersprüche hinterher, die die Pechspuren hinter gewissen Personen reinigen sollten.
    Als hätten die Worte der alten Dienerin mehr Wirkung als alle Gebete, wurde die Hebamme nun vollends zornig. Ihr so früh unterbrochener Schlaf und die
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