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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen
Autoren: Rafik Schami
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Trinker, sondern ein Nachfahre des Sisyphus. Er könne den Anblick eines vollen Weinglases nicht ertragen. So trank er und trank, und wenn das Glas leer war, machte ihn der Anblick der Leere melancholisch. Schimon wohnte im ersten Haus rechts vom Gnadenhof, dort wo die Abbaragasse in die Judengasse mündete. Von seiner Terrasse im ersten Stock konnte er direkt in Salmans Wohnung sehen.
    Schimon trank jede Nacht bis zur Bewusstlosigkeit, lachte in einem fort und erzählte dreckige Witze, während er in nüchternem Zustand mürrisch und einsilbig war. Man sagte, Schimon bete den ganzen Tag, weil ihn wegen seiner nächtlichen Eskapaden das Gewissen plage.
    Salmans Vater verwandelte der Arrak in ein Tier, das nicht aufhörte, ihn und seine Mutter zu verfluchen und zu schlagen, bis einer der Nachbarn auf den wutschnaubenden Mann einredete, der plötzlich mitten im Toben einhielt und sich ins Bett führen ließ.
    So lernte Salman früh, die heilige Maria anzuflehen, dass einer der Nachbarn ihn hören und schnell kommen möge. Alle anderen Heiligen, sagte Sarah, taugten nichts, wenn man sie brauchte.
    Sie war wie er spindeldürr, hatte aber das schöne Gesicht ihres Vaters und die Tatkraft und die scharfe Zunge ihrer Mutter geerbt. Und solange Salman denken konnte, trug Sarah immer, auch später als erwachsene Frau, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, was ihre schönen kleinen Ohren freilegte, um die Salman sie beneidete. Vor allem aber las Sarah Bücher, wann immer sie die Zeit fand, und Salman lernte früh, Respekt vor ihrem Wissen zu haben.
    Einmal hatte er sie samt der heiligen Maria ausgelacht, und augenblicklich war der Maikäfer, den er an einem Faden in die Höhe fliegen ließ, ausgerissen. Der Faden, an dessen Ende ein kleines lebloses Beinchen hing, fiel zu Boden. Sarahs Käfer dagegen flog munter so lange und so weit er wollte am Ende seines dünnen Fadens, und das knochige Mädchen flüsterte der heiligen Maria zu, die Beine des Tieres zu schützen. Sie holte den Käfer sooft sie wollte vom Himmel, fütterte ihn mit frischen Maulbeerblättern und steckte ihn in eine Streichholzschachtel, dann marschierte sie erhobenen Hauptes in ihre Wohnung, die von Salmans nur durch einen Holzschuppen getrennt war.
    Sarah war es auch, die ihm als erste von den Männern erzählte, die Samira besuchten, wenn ihr Mann, der Tankwart Jusuf, nicht zu Hause war. Sie wohnte am anderen Ende des Gnadenhofs zwischen dem Bäckergesellen Barakat und dem Hühnerstall.
    Als er Sarah fragte, warum die Männer zu Samira und nicht zu ihrem Mann kommen, lachte sie. »Dummkopf«, sagte sie, »weil sie einen Schlitz hat da unten, und die Männer haben eine Nadel, und sienähen ihr das Loch zu, und dann geht der Schlitz wieder auf und dann kommt der nächste Mann.«
    »Und ihr Mann Jusuf, warum näht er ihr den Schlitz nicht selber zu?«
    »Er hat nicht genug Garn«, sagte Sarah.
    Sie erklärte Salman auch, warum sein Vater immer wild wurde, wenn er trank. Es war an einem Sonntag, und als der Vater genug getobt hatte und endlich von Schimon und den anderen Männern ins Bett gebracht worden war, setzte sich Sarah zu Salman. Sie streichelte ihm die Hand, bis er aufhörte zu weinen, dann putzte sie ihm die Nase.
    »Dein Vater«, erzählte sie leise, »hat einen Bären im Herzen. Da drinnen wohnt er«, sie klopfte ihm auf die Brust, »und wenn er trinkt, wird das Tier wild und dein Vater ist nur noch seine Hülle.«
    »Seine Hülle?«
    »Ja, seine Hülle, wie wenn du ein Bettlaken über dich wirfst und dann herumtanzt und singst. Man sieht das Bettlaken, aber das ist nur die Hülle, und du bist derjenige, der tanzt und singt.«
    »Und was hat dein Vater in seinem Herzen?«
    »Einen Raben hat er, aber dieser Rabe hält sich für eine Nachtigall, deshalb singt er dann so fürchterlich. Schimon hat einen Affen, deshalb wird er nur dann lustig, wenn er genug getrunken hat.«
    »Und ich, was habe ich?«
    Sarah legte ihr Ohr an seine Brust. »Einen Spatz höre ich. Er pickt vorsichtig und hat immer Angst.«
    »Und du? Was hast du?«
    »Einen Schutzengel für einen kleinen Jungen. Dreimal darfst du raten, wer das ist«, sagte sie und rannte davon, weil ihre Mutter nach ihr rief.
    Abends, als er sich zu seiner Mutter legte, erzählte er ihr vom Bären. Die Mutter staunte nicht wenig. Sie nickte. »Er ist ein gefährlicher Bär, geh ihm aus dem Weg, mein Junge«, sagte sie und schlief ein.
    Seine Mutter erholte sich von ihrer Krankheit erst zwei Jahre
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