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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen
Autoren: Rafik Schami
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Männern üblich ist, ging Nassris Herz erst richtig in Flammen auf, wenn sich ihm eine Frau verweigerte. Nura wollte von ihm nichts wissen und so wurde er fast verrückt nach ihr. Er soll monatelang keine Hure mehr angefasst haben. »Er war besessen von ihr«, vertraute seine junge Frau Almas der Hebamme Huda an. »Er schlief nur noch selten mit mir, und wenn er auch bei mir lag, wusste ich, er war mit seiner Seele bei der Fremden. Aber bis zu ihrer Flucht wusste ich nicht, wer sie war.«
    Dann habe ihm der Kalligraph die Liebesbriefe geschrieben, die jeden Stein gefügig machen konnten, aber das war für die stolze Nura der Gipfel der Unverschämtheit. Sie übergab ihrem Vater die Briefe. Der Sufigelehrte, dessen Charakter ein Vorbild der Ruhe war, wollte es erst nicht glauben. Er vermutete, irgendein böser Geist wolle die Ehe des Kalligraphen zerstören. Doch die Beweise waren erdrückend. »Es war nicht nur die unverwechselbare Schrift des Kalligraphen«, erzählte die Hebamme, die in den Briefen besungene Schönheit Nuras sei zudemso genau beschrieben, dass außer ihr selbst und ihrer Mutter nur der Ehemann und sonst niemand genau Bescheid darüber wissen könne. Und nun senkte die Hebamme ihre Stimme so weit, dass die anderen Frauen kaum noch atmeten. »Nur sie konnten wissen, wie Nuras Brüste, ihr Bauch und ihre Beine aussahen und wo sie welches Muttermal trug«, fügte sie hinzu, als hätte sie die Briefe gelesen. »Der Kalligraph wusste dann nichts anderes zu sagen«, ergänzte eine andere Nachbarin, »als dass er nicht gewusst habe, für wen der Gockel die Briefe brauche, und dass Dichter, wenn sie eine fremde, ihnen unbekannte Schönheit besingen, immer nur das, was sie kennen, beschreiben würden.«
    »Welch ein charakterloser Mann«, dieser Seufzer wanderte in den nächsten Tagen von Mund zu Mund, als hätte ganz Damaskus nur dieses Thema. Manch einer fügte hinzu, wenn keine Kinder in seiner Nähe standen: »Dann soll er in der Schande leben, während seine Frau unter dem Gockel liegt.«
    »Aber sie liegt nicht unter dem Gockel. Sie flüchtete und ließ beide zurück. Das ist ja das Wundersame«, korrigierten die bösen Zungen geheimnisvoll.
    Gerüchte mit bekanntem Anfang und Ende leben in Damaskus nur kurz, aber das Gerücht von der Flucht der schönen Frau hatte einen kuriosen Anfang und kein Ende. Es schlenderte unter den Männern von Café zu Café und in den Innenhöfen von Frauenrunde zu Frauenrunde, und immer wenn es von einer Zunge zur nächsten Zunge sprang, veränderte es sich.
    Von den Ausschweifungen des Kalligraphen wurde erzählt, zu denen ihn Nassri Abbani verführt habe, um so an dessen Frau zu kommen. Von den Geldsummen, die der Kalligraph für die Briefe bekam. Nassri soll das Briefgewicht in Gold bezahlt haben. »Deshalb schrieb der gierige Kalligraph die Liebesbriefe mit großen Buchstaben und breitem Rand. Aus einer Seite machte er fünf«, wussten die bösen Zungen zu berichten.
    Das alles mag dazu beigetragen haben, der jungen Frau die Entscheidung zu erleichtern. Ein Kern der Wahrheit blieb allen verborgen. Dieser Kern hieß Liebe.
    Ein Jahr zuvor, im April 1956, hatte eine stürmische Liebesgeschichte ihren Anfang genommen. Damals stand Nura am Ende einer Sackgasse, als plötzlich die Liebe die sich vor ihr auftürmende Mauer sprengte und ihr eine Kreuzung der Möglichkeiten zeigte. Und Nura musste handeln.
    Da die Wahrheit aber keine simple Aprikose ist, hat sie einen zweiten Kern, von dem nicht einmal Nura etwas wusste. Der zweite Kern dieser Geschichte war das Geheimnis des Kalligraphen.

 
    Der erste Kern der Wahrheit
     
    Ich folge der Liebe.
    Wohin auch ihre Karawane zieht,
    Liebe ist meine Religion,
    mein Glaube.
     
    Ibn Arabi
    (1165 – 1240)
    Gelehrter Sufi

 
    1.
     
    U nter dem Gejohle einer Gruppe Jugendlicher taumelte ein Mann aus seinem Getreidegeschäft. Er versuchte verzweifelt, sich an der Tür festzuhalten, doch die lärmende Meute schlug ihm auf die Finger und Arme, zerrte an ihm, versetzte ihm Schläge, wenn auch keine besonders kräftigen. Als wäre das Ganze ein Spaß, lachten die Jugendlichen dabei und sangen ein absurdes Lied, in dem sie zugleich Gott dankten und den Mann unflätig beschimpften. Es waren gereimte Obszönitäten von Analphabeten.
    »Hilfe«, schrie der Mann, doch keiner half ihm. Die Angst ließ seine Stimme heiser klingen.
    Wie Wespen schwirrten kleine Kinder in ärmlichen Kleidern um die Traube der Jugendlichen, die den Mann
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