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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen
Autoren: Rafik Schami
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geschleift und dort unter Gejohle beschimpft und geschlagen.
    Nuras Vater kam spät. Sein Gesicht hatte an diesem Tag jede Farbe verloren. Er war nur noch grau, und sie hörte ihn lange mit ihrer Mutter über die Jugendlichen streiten, die er »gottlos« schimpfte. Erst beim Abendessen hatte er sich wieder beruhigt.
    Jahre später dachte Nura, wenn es so etwas wie eine Kreuzung auf dem Weg zu ihren Eltern gegeben hätte, dann hätte sie sich in jenerNacht entschieden, den Weg zum Vater zu nehmen. Das Verhältnis zu ihrer Mutter blieb immer kalt.
    Am Tag nach dem Vorfall wollte Nura wissen, ob der Mann mit der Brille auch ohne Herz leben könne. Der Himmel klarte für Stunden auf, nur eine Flotte kleiner Wolken überquerte den himmlischen Ozean. Nura schlich durch die offene Haustür und gelangte von ihrer Gasse zur Hauptstraße. Sie bog nach links ab und ging am großen Getreidegeschäft vorbei, das zur Straße hin ein Büro mit großen Fenstern hatte. Daneben lag die Halle, in der Arbeiter pralle Jutesäcke mit Körnern trugen, wogen und aufstapelten.
    Als wäre nichts geschehen, saß der Mann wieder vornehm dunkel angezogen an einem mit Blättern übersäten Tisch und schrieb etwas in ein dickes Heft. Er hob kurz den Kopf hoch und schaute zum Fenster hinaus. Augenblicklich drehte Nura ihren Kopf zur Seite und lief schnell weiter bis zum Eissalon. Dort holte sie tief Atem und machte kehrt. Diesmal vermied sie es, ins Büro hineinzuschauen, damit der Mann sie nicht erkennen konnte.
    Noch Jahre später verfolgte sie das Bild des auf der Straße liegenden nackten Mannes bis in ihre Träume. Nura wachte immer erschrocken auf.
    »Josef Aflak, Getreide, Saatgut«, entzifferte sie einige Zeit später das Schild über dem Eingang des Geschäfts, und kurz darauf erfuhr sie, dass der Mann Christ war. Es war nicht so, dass ihre Mutter diesen Mann hasste, für sie waren alle, die nicht Muslime waren, Ungläubige.
    Auch der Süßigkeitenverkäufer mit den lustigen roten Haaren war Christ. Er hieß Elias und machte immer Scherze mit Nura. Er war der einzige in ihrem Leben, der sie Prinzessin nannte. Sie fragte ihn einmal, warum er sie nicht besuche, und hoffte dabei, dass er mit einer großen Tüte voller bunter Süßigkeiten kommen würde, aber Elias lachte nur.
    Auch der Eissalon gehörte einem Christen, Rimon. Der war sonderbar. Wenn er keine Kunden hatte, nahm er seine Laute von der Wand und spielte und sang, bis der Laden voll wurde, dann rief er: »Wer will ein Eis?«
    Deshalb dachte Nura, ihre Mutter mochte Christen nicht, weil sielustig waren und immer das Leckerste verkauften. Ihre Mutter war spindeldürr, lachte selten und aß nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
    Oft tadelte sie der Vater, dass sie bald keinen Schatten mehr werfe. Auf den alten Bildern sah die Mutter rundlich und schön aus. Aber jetzt sagte auch Badia, die beleibte Nachbarin, sie fürchte, dass Nuras Mutter beim nächsten Wind weggeweht würde.
    Als Nura kurz vor Ende der neunten Klasse stand, hörte sie von ihrem Vater, Josef, der Getreidehändler, sei gestorben. Er soll vor seinem Tod erzählt haben, dass er damals, als die Jugendlichen ihn gequält hatten, für einen Augenblick ohnmächtig gewesen sei und wie in einem vorbeiziehenden Film gesehen habe, dass seine Tochter Marie und sein Sohn Michel zum Islam übertreten würden.
    Niemand nahm ihn ernst, weil der alte Mann kurz vor seinem Tod Fieber hatte. Die Entscheidung seiner Tochter Marie, nach einer stürmischen Liebe einen Muslim zu heiraten, hatte er nie verdaut. Die Ehe endete später unglücklich.
    Und über seinen einzigen Sohn Michel, der nicht sein Geschäft weiterführen, sondern Politiker werden wollte, war er schon lange verärgert. Doch Josefs Traum ging in Erfüllung, denn fünfzig Jahre später, kurz vor seinem Tod, erklärte Michel als verbitterter alter Politiker im Bagdader Exil seinen Übertritt zum Islam und wurde schließlich dort unter dem Namen Ahmad Aflak begraben. Aber das ist eine andere Geschichte.
     
    Die Aijubigasse lag im alten Midan-Viertel südwestlich der Altstadt, aber außerhalb der Stadtmauer. Sie duftete nach Anis, aber sie langweilte Nura. Sie war kurz und hatte nur vier Häuser. Nuras Elternhaus bildete den Abschluss dieser Sackgasse. Die fensterlose Mauer des Anislagers besetzte die stumme rechte Seite.
    Im ersten Haus auf der linken Seite der Gasse lebte Badia mit ihrem Mann. Er war groß und formlos und sah aus wie ein ausgedienter Kleiderschrank.
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