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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen
Autoren: Rafik Schami
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Badia war die einzige Freundin von Nuras Mutter. Nura kannte die neun Töchter und Söhne Badias nur als Erwachsene, die sie immer freundlich grüßten, aber wie Schatten vorbeihuschten,ohne Spuren zu hinterlassen. Nur die Tochter Buschra war ihr aus der Kinderzeit im Gedächtnis geblieben. Sie mochte Nura, küsste sie, wann immer sie sie sah, und nannte sie »meine Schöne«. Buschra duftete nach exotischen Blumen, weshalb sich Nura gerne von ihr umarmen ließ.
    Das zweite Haus bewohnte ein reiches und kinderloses, sehr altes Ehepaar, das kaum Kontakt zu den anderen hatte.
    Im Haus unmittelbar neben Nura wohnte eine große Familie von Christen, mit denen die Mutter kein Wort wechselte. Ihr Vater dagegen grüßte die Männer freundlich, wenn er sie auf der Gasse traf, während die Mutter etwas murmelte, das wie Abwehrzauber klang, der sie schützen sollte, für den Fall, dass diese Feinde einen ihrer Zaubersprüche gegen sie schleuderten.
    Sieben oder acht Jungen zählte Nura im Haus der Christen. Es gab kein einziges Mädchen. Sie spielten mit Bällen, Murmeln und Kieselsteinen. Manchmal tollten sie fröhlich den ganzen Tag wie übermütige Welpen herum. Nura beobachtete sie oft von der Haustür aus, immer bereit, die Tür zuzuschlagen, sobald sich einer ihr näherte. Zwei von ihnen, die etwas älter und größer waren als die anderen, machten ihr immer, sobald sie sie erblickten, Andeutungen, dass sie sie umarmen und küssen wollten, dann huschte sie schnell ins Haus und beobachtete durch das große Schlüsselloch, wie die Jungen miteinander lachten. Ihr Herz raste, und sie wagte sich den ganzen Tag nicht mehr hinaus.
    Manchmal trieben sie es wirklich schlimm. Wenn Nura auf dem Rückweg vom Eisverkäufer oder vom Süßigkeitenhändler war, tauchten die Jungen plötzlich auf und stellten sich wie eine Mauer vor sie. Sie forderten, an ihrem Eis oder Lutscher lecken zu dürfen, und drohten, ihr sonst den Weg nicht freizumachen. Erst wenn Nura anfing zu weinen, verschwanden sie.
    Eines Tages beobachtete Elias die Szene, als er zufällig vor seinem Laden kehrte und einen Blick in die Gasse warf. Er kam Nura mit seinem großen Besen zu Hilfe und schimpfte mit den Jungen. »Wenn es noch einmal einer wagt, dir den Weg zu versperren, komm nur zu mir. Mein Besen hungert nach einem Hintern«, rief Elias laut, damit dieJungen es hörten. Das wirkte. Seit diesem Tag standen ihr die Jungen Spalier, wenn sie sich zufällig trafen.
    Nur einer gab nicht auf. Er flüsterte ihr häufig zu: »Du bist so schön. Ich will dich sofort heiraten.«
    Er war dick, hatte weiße Haut und rote Backen und war jünger als sie. Die anderen, schon größeren Jungen, die ihr schöne Augen machten, lachten ihn aus.
    »Dummkopf, sie ist eine Muslimin.«
    »Dann will ich auch ein Muslim sein«, rief der Junge verzweifelt und handelte sich eine schallende Ohrfeige von einem seiner Brüder ein. Der Dicke hieß Maurice, ein anderer Giorgios. Komische Namen, dachte Nura und hatte Mitleid mit dem Dicken, der nun laut heulte.
    »Und wenn schon. Ich bin Muslim, wenn es mir gefällt, und Muhammad ist mir lieber als du«, rief er trotzig, und der andere gab ihm eine zweite Ohrfeige und einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein. Maurice schniefte und schaute unaufhörlich auf Nuras Haus, als würde er von dort die Rettung erwarten.
    Bald darauf rief eine Frau aus dem Hausinneren nach ihm, und er ging langsam und mit gesenktem Haupt hinein. Es dauerte nicht lang, und Nura hörte die Schreie der Mutter und das Flehen des Sohnes.
    Seit diesem Tag sprach Maurice nicht mehr vom Heiraten. Er mied Nuras Blick, als ob er durch ihn krank werden könnte. Einmal saß er am Hauseingang und schluchzte. Als er Nura sah, drehte er sich zur Wand und weinte leise. Nura blieb stehen. Sie sah seine großen dunkelroten Ohren und verstand, dass man ihn geschlagen hatte. Er tat ihr leid. Sie näherte sich ihm und berührte ganz leicht seine Schulter. Maurice hörte abrupt auf zu weinen. Er drehte sich zu ihr und lächelte mit einem Gesicht voller Tränen und Rotz, den er mit dem Ärmel über beide Wangen verteilt hatte.
    »Nura«, flüsterte er erstaunt.
    Sie wurde rot und rannte nach Hause. Ihr Herz klopfte. Sie gab ihrer Mutter die Papiertüte mit den Zwiebeln, die sie bei Omar, dem Gemüsehändler, gekauft hatte.
    »Hat der Gemüsehändler was gesagt?«, fragte die Mutter.
    »Nein«, sagte Nura und wollte zur Haustür gehen, um nach Maurice Ausschau zu halten.
    »Du bist ja so
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