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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Autoren: Ralf Isau
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vorerst nicht weiter zu vertiefen. Sie könnten glauben, ich spräche von Zauberei.«

N icht nur das Wetter war traumhaft. Noch in anderer Hinsicht fühlte sich Leo in einen Traum versetzt. Einen von der angenehmeren Sorte. In einer Gruppe von Jugendlichen näherte er sich einem weißen Barockschloss mit roten Dachziegeln und gelb oder grau abgesetzten Fenstereinfassungen. Sofern er keine weiteren Wetterhähne mehr entführte, sollte es bis zum Abitur sein zweites Zuhause werden.
    Laut der Informationsbroschüre, die Direktor Dabelstein der Familie Leonidas überlassen hatte, befand sich die Traumakademie in einem ehemaligen Zisterzienserkloster oberhalb des kleinen Dorfes Salem. Die gesamte Anlage bildete ein großes Rechteck mit drei begrünten Innenhöfen. Das im gotischen Stil errichtete Münster der Abtei begrenzte zwei von ihnen im Norden. In unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche erstreckte sich bis hinüber zum Westflügel ein vorgelagertes langes Gebäude mit Unterrichtsräumen.
    Die knapp dreihundert Schüler wohnten im westlichen Geviert des Schlosses. Von den Zwei- oder Vierbettzimmern blickte man entweder auf den Rasen des ruhigen Schlosshofes oder man hatte eine atemberaubende Aussicht auf die von Feldern, Weinhängen und Wäldern geprägte Hügellandschaft oberhalb des ungefähr elf Kilometer entfernten Bodensees. So versprach
es der Schulprospekt. In der Broschüre stand auch, dass die Abtei Anno Domini 1134 gegründet worden war. Leo kannte unzählige Geschichten, die sich um solche ehrwürdigen Gemäuer rankten, manche spannend andere gruselig. Er war neugierig, welche aufregenden Geheimnisse das fast neunhundert Jahre alte Kloster barg.
    Ein Bus der Akademie hatte ihn und etwa vierzig weitere Schüler in Friedrichshafen abgeholt. Auf der knapp fünfundzwanzig Kilometer langen Fahrt war er mit seinem Sitznachbarn Benno Kowalski ins Gespräch gekommen, einem pummeligen Rotschopf aus Potsdam. Benno hatte streichholzkurze Haare, ungefähr eine Million Sommersprossen im Gesicht und eine weithin hörbare, quäkende Stimme. Besonders helle war er wohl nicht, machte das mit seinem sonnigen Gemüt aber mehr als wett.
    »Mein Vater ist ein Müllbariton«, sagte er, womit er gleich sein größtes Talent offenbarte: Er konnte Fremdwörter mit fast hundertprozentiger Sicherheit verwechseln.
    »Du meinst Müllbaron?«, half Leo ihm auf die Sprünge.
    Benno nickte. »Genau. Dreißig Potenz der Müllwagen in Brandenburg gehören ihm.«
    »Prozent«
    »Was?«
    »Dreißig Prozent .«
    »Sag ich doch.«
    »Bist du neu in Salem?«
    »Nee. Seit der Achten. Die sollen aus mir ’n Expresschecker machen. Ist voll in die Hose gegangen – zum Leidwesen meiner Erzeugerfraktion. Hast du schon ’n Zimmer?«
    »Nö. Bekommt man das nicht zugeteilt?«
    »Normalerweise ja. Mein Zimmernachbar ist in die Oberstufe
gewechselt. Da wäre ’ne Matratze frei. Soll ich mal checken, ob du bei mir einziehen kannst?«
    Leo überlegte nicht lang. Abgesehen von der durchdringenden Stimme schien der Rotschopf ein ganz umgänglicher Typ zu sein. »Wegen mir.«
    »Klingst ja nicht gerade begeistert.«
    »Gib mir noch etwas Zeit. Für mich ist das alles ziemlich neu.«
    Benno hatte diese Äußerung als Einladung aufgefasst, für den Rest der Fahrt ununterbrochen zu reden. Seine mit Wortverwechslungen gespickten Schilderungen erstreckten sich über die »Maroden« (Marotten) seines kürzlich verendeten Hundes Lupo bis zu den zehn ungenießbarsten Speisen in der Mensa des Internats. Auf dem Weg zum Sammelpunkt vor dem Münster redete er immer noch. Als er keuchend seine schwere Reisetasche abstellte, rutschte ein bronzefarbener Kettenanhänger aus seinem Halsausschnitt.
    »Kreis und Dreieck? Was ist das für ein Symbol?«, fragte Leo. Die beiden geometrischen Figuren waren in vollkommener Symmetrie miteinander verschmolzen. Nur ihre jeweiligen Randbereiche ragten über die gemeinsame Schnittfläche hinaus. Ihr Zentrum beherrschte ein sitzender Vogel in Seitenansicht. Sein Flügel bildete ein großes Auge.
    Hektisch stopfte Benno den Anhänger in den Ausschnitt zurück und murmelte: »Unwichtig. Vergiss es einfach.«
    »Ist das ein Amulett? Bist du abergläubisch? Soll wohl niemand merken.«
    »Blödsinn. Ich will nur nicht für ’n Weichei gehalten werden oder für ’ne Tunte. Den Ruf hast du hier schnell weg, wenn du als Kerl Schmuck trägst.«
    Leo musste grinsen. »Warum hängst du dir dann so was um?«
    »Du nervst.«
    »Hat das Symbol
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