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Das Geheimnis der Schwestern

Das Geheimnis der Schwestern

Titel: Das Geheimnis der Schwestern
Autoren: Kristin Hannah
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so. Tante Winona musterte mich und meinte: »Geh duschen und zieh dir eine Hose an, die passt. Ich will deine Unterwäsche nicht sehen.« Ich wollte schon widersprechen, aber da hob sie die Hand und meinte: »Bitte, dann bleib hier und geh zur Schule.«
    Also hab ich mich »nett angezogen«.
    Wir stiegen in Tante Winonas Wagen und fuhren los. Die ganze Strecke am Hood Canal entlang löcherte ich sie mit Fragen nach unserem Fahrtziel, aber sie wollte nicht damit rausrücken, obwohl ich sah, dass sie es am liebsten verraten hätte. Die ganze Zeit lächelte sie.
    Ich war so mit Fragen beschäftigt, dass ich nicht mal merkte, als wir vom Freeway abbogen. Und dann sah ich das Schild zum Gefängnis.
    »Ist das dein Ernst?«, fragte ich. Vorher hatte ich sie die ganze Zeit lachend aufgezogen, aber als ich das Schild sah, gefror mir das Blut in den Adern.
    »Ich wollte nicht, dass du es deiner Mom sagst. Nur falls was schiefgeht«, antwortete Tante Winona. Sie warf mir einen Blick zu. »Bis zur letzten Minute kann immer was schiefgehen. Das hab ich lernen müssen.«
    »Wie ist das möglich?«, fragte ich. Mehr fiel mir nicht ein.
    »Ich hab die DNA -Spuren noch mal testen lassen. Dadurch fanden wir heraus, wer in jener Nacht wirklich in Cats Haus war. Es war nicht dein Dad«, sagte sie. »Also hat sich die Staatsanwaltschaft meinem Antrag auf Freilassung angeschlossen.«
    »Morgen«, sagte sie, »werden sich alle Zeitungen daraufstürzen, daher bringe ich dich heute zu ihm, weil euch in nächster Zeit ständig Kameras folgen werden.«
    »Aber was ist mit Mom?«, fragte ich.
    »Keine Sorge«, antwortete Tante Winona. »Aurora wird sie den ganzen Tag beschäftigen, das Tor zur Ranch geschlossen halten und das Telefon ausstöpseln. Ich möchte nicht, dass deine Mom davon erfährt, bis er wirklich freikommt. Nur für alle Fälle. Noch eine Enttäuschung würde sie nicht verkraften.«
    Wir fuhren vor dem Gefängnis vor, und es war noch genau so, wie ich es in Erinnerung hatte: grau und hässlich. Am Parkplatz hielten wir und stiegen aus. Im Wachturm ging ein Mann mit Gewehr hin und her.
    »Ich hab meinen Schülerausweis nicht dabei«, sagte ich plötzlich. »Darf ich ihn dann überhaupt besuchen?« Noch bevor Tante Winona antworten konnte, ertönte ein Summen, und das große schwarze Tor ging langsam auf.
    Ich durfte ihn besuchen. Meinen Dad. Er kam mit einem riesigen Wachmann aus dem Gefängnis; er trug schwarze Levi’s, die ihm zu groß waren, und ein zerknittertes schwarzes Hemd. Wie lang seine Haare waren, sah ich nicht, weil er einen Pferdeschwanz hatte.
    Ich ging auf ihn zu und starrte in sein Gesicht, das meinem so ähnlich ist.
    »Noah«, sagte er, und da wurde mir klar, dass ich noch nie zuvor Dads Stimme gehört hatte.
    »Du bist wirklich da«, sagte er, und dann fing er als Erster an zu weinen. Er sagte etwas, das ich nicht verstand, aber es klang sehr vertraut. Auf einmal wusste ich, dass er das früher immer zu mir gesagt hatte, als ich noch ein Baby war. Das, was meine Mutter nicht verstanden hatte. Es gehörte nur Dad und mir.
    »Das bedeutet in der Sprache meiner Mutter: Reitet wie der Wind«, erklärte er. »Mein Gott«, sagte er dann. »Als ich dich zurückließ, warst du ein Baby, auf dem Arm deiner Mutter. Und jetzt steht ein Mann vor mir.«
    Dann zog er mich in seine Arme und sagte: »Ich hab dich vermisst, junger Mann.«

Dreißig
    Es gab buchstäblich noch hundert Dinge bis zur Halloween-Party am Freitag zu tun. Ohne Noah würde Vivi Ann höllische Mühe haben, um alles rechtzeitig fertigzubekommen. Nach dem Frühstück ging ihr Dad den Traktor aus dem Offenstall holen, und die Arbeiter machten sich ans Füttern der Bullen.
    Aurora tauchte gegen Mittag auf und folgte Vivi Ann einen Großteil des Tages, obwohl sie keine besondere Hilfe war. Dann saß sie mit ihr auf der Veranda, bis es dunkel wurde. Das weiße Geländer war mit bunten Muscheln, Kieseln und Scherben geschmückt; Generationen von Frauen und Kindern der Familie Grey hatten ihr Territorium mit Schätzen vom Kanalufer markiert. Vivi Ann hatte noch die letzte rosafarbene Muschel, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Sie trug sie zwar nicht mehr ständig bei sich, aber sie wartete immer hier, auf dieser Veranda, auf sie.
    Die nächsten Stunden saßen sie auf der Veranda, plauderten, lachten und schwiegen auch dann und wann. Eigentlich war an diesem Tag die ganze Ranch erstaunlich ruhig gewesen, nicht ein Wagen war die Zufahrt heraufgefahren, nicht
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