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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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eigentümlicher
Geruch sich gleich in der Hütte ausbreitete.
    »Was tust du da?«
    Bernina wollte sich dagegen wehren, aber eine plötzliche Schärfe
in den Worten der Frau brachte sie zum Schweigen: »Stell dich nicht so an, du
dummes Ding. Das ist Ringelblumensalbe. Ich habe sie eigenhändig zubereitet.
Sie tut dir gut und sorgt dafür, dass die Schwellung rasch zurückgeht.«
    »Schwellung?«, wiederholte Bernina matt. Allmählich kehrten die
Erinnerungen an den frühen Morgen mit der unwirklichen Stille und jenen Nebelfetzen
zurück. An den Moment, als sie den Korb mit Eiern auf dem Boden abstellte, um
einem sonderbaren Summen auf den Grund zu gehen. Das kleine Mädchen. Erst jetzt
fiel es ihr wieder ein. Das Kind mit dem hellblauen Kleid, dem sie nachgelaufen
war. Wie hatte es sich einfach in Luft auflösen können?
    Verstört versuchte sich Bernina das Gesicht des Kindes ins
Gedächtnis zu rufen, doch das war ihr nicht möglich. Weitere Erinnerungen
kamen. Der Krach, die Schreie, die Mörder.
    Hildegard!, durchzuckte es Bernina.
    Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie ihre einzige Freundin an den
eigenen Haaren wie ein Stück Vieh über die Erde geschleift wurde. Und
schlagartig brannten die Bilder des Morgens ganz intensiv in ihr. Von Neuem
versuchte sie aufzustehen, doch wie zuvor wurde sie scheinbar mühelos von der
Krähenfrau daran gehindert.
    »Ich muss zum Hof«, protestierte sie.
    »Da gibt es sowieso nichts, was du tun könntest«, erwiderte die
Frau mit einer Stimme, in der auf einmal eine schwelende Ruhe lag.
    Alles in Bernina erstarrte. »Warum?«, hörte sie sich tonlos
fragen.
    »Vom Petersthal-Hof, wie du ihn kennst, ist nicht mehr viel
übrig.«
    »Aber … Hildegard.«
    »Tot«, entgegnete die Frau. Ihre Stimme war ebenso ruhig wie eben
noch, das Funkeln in ihren Augen allerdings war einer düsteren Traurigkeit
gewichen.
    »Das darf nicht sein«, keuchte Bernina, die so schockiert war,
dass sie noch nicht einmal weinen konnte. Alles kam ihr so merkwürdig vor, als
geschehe es überhaupt nicht.
    »Alle sind tot«, fuhr die Krähenfrau leise fort.
    »Um Himmels willen …«
    »Und die Reiter sind längst wieder verschwunden. Das alles ist
gestern passiert«, betonte sie.
    »Gestern schon?« Völlig verblüfft starrte Bernina sie an.
    »Ja, du hast lange geschlafen, einen Tag und eine Nacht. Ich habe
dir einen Tee gegeben, der dir Ruhe schenkte, der dich müde machte.«
    »Du hast mich betäubt?«, fragte Bernina mit plötzlicher, deutlich
hörbarer Wut.
    »Nicht betäubt«, versuchte die Frau sie sogleich zu beruhigen.
»Wie gesagt, bloß ein wenig müde gemacht. Um dich vor dir selbst zu schützen.
So schön hast du geschlafen, so schön geatmet. Nicht einmal das Prasseln des
Regens hat dich geweckt.«
    »Geregnet hat es?«, erwiderte Bernina. Sie war verwirrt, ihre
Gedanken bildeten noch immer ein unentwirrbares Knäuel.
    »Ja, fast den ganzen Nachmittag. So wurden die Feuer gelöscht. Die
fremden Männer haben jedes Gebäude in Brand gesetzt, sogar den kleinen
Hühnerstall und den leeren Vorratsschuppen. Nachdem sie gehaust haben wie die
Boten des Satans.«
    »So lange habe ich geschlafen?«
    »Ja, mein Kind. Und ich habe in der Zwischenzeit die Leichen
begraben. Jedenfalls die wenigen, die nicht in die Flammen geworfen wurden.
Auch deine Hildegard habe ich unter die Erde gebracht.«
    Noch immer fühlte Bernina keine Träne auf ihren Wangen. Ihre Augen
waren ganz trocken. Sie starrte ins Nichts.
    »Dein Kopf scheint sich gut erholt zu haben«, sprach die
Krähenfrau weiter. »Zuerst befürchtete ich, ich wäre zu unvorsichtig mit dir
umgesprungen und es könnte ein Knochen gebrochen sein. Zum Glück scheinst du
einen Dickschädel zu haben.« Wieder versuchte sie zu lächeln. »Aber was hast du
dich auch gewehrt!«, schimpfte sie dann mit gespielter Strenge. »Hättest dich
selbst ins Unglück gestürzt, nur um zu helfen, wo niemand mehr helfen konnte.«
    Bernina hörte gar nicht richtig zu, jedes Wort prallte dumpf an
ihr ab.
    Die Welt war eine andere geworden. Urplötzlich, von einem
Wimpernschlag auf den nächsten.
    »Schlaf jetzt noch ein wenig«, drang von Ferne die Stimme der
Krähenfrau zu ihr. »Der Schlaf hilft dir.«
    »Ich will nicht schlafen«, antwortete Bernina, und sie fühlte die
Müdigkeit wie einen schweren eisernen Klumpen in ihrem Inneren. »Ich …
will zum Hof. Ich … muss zum Hof und …«
    Sie merkte nicht, wie ihr Kopf langsam zur Seite sank und sie
erneut von
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