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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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Die kalten Nebel des Todes
    In dem kleinen abgelegenen Tal herrschte an diesem Morgen eine
Stille, in der etwas Unwirkliches lag. Ein seltsamer Nebel zog in Fetzen
zwischen den Rottannen hindurch, die vom gerade erst vergangenen Winter noch
wie tot aus der kalten Erde ragten. Fast schien es, als könnten die Gebäude des
Hofes und die Wälder ringsum spüren, dass bald etwas passieren würde.
    Bernina fielen diese Nebelschwaden sofort auf, als sie sich mit
einem Korb auf ihren üblichen Weg zum Hühnerstall machte. Die junge Frau zog
die Decke, die sie sich über die Schultern gelegt hatte, fester zusammen. Einen
verwirrenden Moment lang war ihr, als versteckten sich irgendwo im fahlen
Flackern des allmählich beginnenden Tages fremde Augen, die sich auf ihre
schlanke, hochgewachsene Gestalt legten.
    Auch nach dem Einsammeln der Hühnereier, als Bernina von Neuem ins
Freie trat und die Stalltür hinter sich schloss, wurde sie von einem
merkwürdigen Gefühl erfasst. Die Ruhe erschien ihr anders als sonst, und die
frische Luft, die in leichten Böen um ihren Körper strich, war wie mit Händen
greifbar. Auf einmal erklang ein Geräusch. Bernina blieb stehen, hielt den Atem
an. Ein Summen. Ein ganz leises Summen.
    Eine Melodie, die Bernina fremd war. Von einer Stimme, die sie
nicht kannte. Weder gehörte sie zu einer der Töchter aus der Familie des
Petersthal-Hofes noch zu einer der Mägde. Behutsam stellte sie den Korb mit den
Eiern zu ihren Füßen ab. Nichts war bedrohlich an dem Summen, im Gegenteil, die
Stimme hörte sich an wie die eines kleinen Kindes. Sanft flirrten die Töne in
Berninas Ohren. Und dennoch spürte sie, wie ein eiskalter Schauer an ihrer
Wirbelsäule entlangrieselte. Das Summen blieb, und Bernina konnte einfach nicht
anders. Sie folgte seinem Klang, als besäße er etwas, dessen sie sich nicht
erwehren konnte. Sie ging an einem kleinen Vorratsschuppen vorbei, der schon
seit Langem nicht mehr gefüllt worden war. Der Krieg ließ keine Vorräte zu.
Wieder wurde sich Bernina der huschenden Nebelfetzen bewusst, die sich näher an
den Hof heranschoben, scheinbar wie um ihn einzukreisen. Einen Augenblick lang
erstarb das Summen, sodass Bernina beinahe zu dem Schluss kam, sie wäre nichts
als einer seltsamen unheimlichen Einbildung gefolgt. Doch rasch setzte die
unbekannte Stimme wieder ein, und Bernina folgte ihr erneut.
    Und dann weiteten sich ihre Augen vor Überraschung. Dort am
Waldrand, wo der Frühling seine ersten zögerlichen grünen Spuren hinterlassen
hatte, stand ein Mädchen. Tatsächlich, ein kleines Mädchen, höchstens drei oder
vier Jahre alt. Bernina sah es nur von hinten, nur kurz, und schon war es
irgendwo zwischen den Tannen, Kiefern und Buchen verschwunden, als würde es
über die von der Nacht feuchten Grasflecken schweben. Trotzdem hatte Bernina
einige Einzelheiten klar wahrgenommen: das glänzend blonde Haar, ähnlich ihrem
eigenen, das weit über die zierlichen Schultern reichte, und vor allem das
blaue Kleid, bei dem selbst auf die Entfernung zu erkennen war, aus welch edlem
Stoff es gefertigt war, ein kleiner Traum aus seidigem Hellblau. Nie hatte
irgendjemand in der Nähe des Petersthal-Hofes einen derartigen Stoff besessen.
    »Wer bist du denn?«, hörte Bernina ihre eigene Stimme, ganz leise
und zugleich voller Neugier. Sie tauchte ein in die Wand aus dunklen Bäumen,
dort, wo sie das Mädchen gesehen hatte, bei dem ersten Gras des Jahres, in dem
ein paar Buschwindröschen und Märzveilchen bereits versuchten, die letzten
Reste des Winters zu vertreiben. Das Summen wieder im Ohr, lief Bernina weiter
und noch ein Stück weiter. Hier drang die Luft gleich viel kühler durch ihr
Kleid und die Decke, keine Spur mehr von Frühlingspflanzen. Die Sohlen ihres
einfachen Schuhwerks knirschten in dem leicht mit Raureif überzogenen
Waldboden. Die Bäume schienen sie regelrecht zu verschlucken. Tiefer in den
Wald ging sie, Schritt für Schritt, ohne allerdings noch einmal einen Blick auf
das Mädchen erhaschen zu können. Das Geräusch wurde leiser. Bernina schien es
zu verlieren. Es klang auf einmal ganz entfernt, doch nur um gleich darauf
wieder lauter zu ertönen. Wer konnte das Mädchen sein, weshalb mochte es sich
in der Nähe des Hofes aufhalten? Offenbar allein, ausgerechnet an einem so
frühen Morgen. Aber es waren nicht nur Verwunderung oder Neugier, die Bernina
antrieben. Sondern etwas in ihrem Inneren, das sie nicht kannte, das sie
weiterdrängte. Eine erdige, mit jungen
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