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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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feucht und kalt an ihre Wangen
drückte, die sie auf ihren Lippen schmeckte.
    »Ich muss helfen«, wisperte sie mit so dünner Stimme, dass sie sie
selbst beinahe nicht erkannte.
    Bernina sah den Nebel, der ihr zuvor bereits bei ihrem ersten
Schritt ins Freie aufgefallen war und der sich nun in Sekundenschnelle
aufzulösen schien. Dann wurde es dunkel um sie.
     
    *
     
    »So hübsch ist sie geworden, so hübsch.«
    Die Worte drangen wie durch eine Wolkenwand in ihr Bewusstsein,
jede Silbe ein schwacher Laut, der leer um sie herumschwebte.
    »So hübsch ihr Gesicht, so hübsch. Eine junge schöne Frau ist sie
geworden. Und so nahe ist sie mir auf einmal.«
    Der Geruch war es, den sie stärker wahrnehmen konnte. Ein modriger
Geruch, der an Kräuter und Wolle erinnerte, an Holz und Feuerkohle. Doch
wirklich einzuordnen war dieses Gemisch aus Aromen ebenso wenig wie die Stimme,
die leise weitersprach, wie in einem Selbstgespräch.
    »So lang und weich ihr Haar, weicher als Seide, ganz weich. So
schön, von einer Farbe wie Honig. So schön, so schön.«
    Erst die Berührung ließ Bernina wacher
werden, brachte ihre Gedanken, ihre Erinnerung auf Trab. Für einen kurzen
Moment sah sie wieder die Gestalt des Reiters in Schwarz, diese silbernen
Haarsträhnen, die die bleichen, geradezu durchsichtigen Wangen berührten. Vor
allem seine eiskalten Augen ließen sie nicht los.
    Auf einmal war die Berührung noch viel deutlicher zu spüren,
Finger, die durch ihr langes blondes Haar strichen, behutsam, immer und immer
wieder.
    Bernina riss die Augen auf, und sofort wurde die Hand weggezogen.
    Rußig schwarze Balken, die die niedrige Decke bildeten. Ein
kleiner Rauchabzug über einer von ebenso verrußten Steinen umkreisten
Feuerstelle. Wände aus Holz, in die überall seltsame Zeichen geritzt waren. An
Nägeln befestigt, hingen zwischen den Symbolen Stoffsäcke. Ein Regal, das mit
allerlei Gegenständen vollgestellt war – Tontöpfe, Kupferbecher, grob
geschnitzte Holzschalen.
    Eine Fensteröffnung war mit Stoff verhängt, sodass das Tageslicht
nur in dünnen Streifen rechts und links davon ins Innere dieser seltsamen Hütte
dringen konnte.
    Ausgestreckt lag Bernina da, flach auf dem Rücken, auf einer von
muffigem Stroh gebildeten Schlafstelle, bedeckt von derbem Wollstoff. Kalt war
ihr trotzdem, sehr kalt. Sie merkte, dass sie zitterte.
    Im nächsten Moment löste sich ein Schatten rechts von ihr, in
Richtung der kleinen schief im Rahmen hängenden Tür. Erneut spürte sie Blicke,
diesmal jedoch nicht die des fremden Reiters, sondern aus winzigen dunklen
Augen, die ihr Gesicht besorgt und argwöhnisch zugleich abtasteten.
    Erschrocken versuchte Bernina sofort sich aufzurichten, aber eine
kleine, von etlichen Schwielen übersäte Hand drückte sie mühelos nach unten.
    »Liegen bleiben«, zischte eine Stimme.
    Bernina gab nach, blickte nur verwundert in das Gesicht der
Krähenfrau.
    »Du bist noch schwach.«
    Die Stimme der Krähenfrau verlor ihr Zischen, klang nun etwas
freundlicher.
    Bernina fühlte sich deswegen aber keineswegs sicherer.
    »Ich möchte aufstehen«, bat sie schwach.
    »Dein Schädel tut bestimmt noch ganz schön weh.«
    Weiterhin ziemlich verwirrt stellte Bernina fest, dass die Frau
recht hatte. Irgendwo in ihrem Kopf war ein schmerzhaftes Pochen, das sie
zunächst gar nicht bemerkt hatte. Ihre Gedanken waren nach wie vor ein einziges
Durcheinander.
    Die Krähenfrau hielt ihr eine Holzschale an die Lippen, und der
Geschmack der kalten Brühe, von der sie vorsichtig nippte, erschien ihr im
ersten Augenblick schmackhafter als alles, was sie je in ihrem Leben gekostet
hatte.
    »Ich werde ein Feuer machen«, sagte die rätselhafte Frau. »Dann
gibt es heiße Brühe. Viel, viel besser als die abgestandene. Aber ich wollte
noch ein bisschen warten mit dem Feuer. Wer weiß, wie weit die Rauchschwaden zu
sehen sind. Selbst im Wald. Man kann nie vorsichtig genug sein.«
    Bernina blinzelte und löste die Schale aus der Hand der Frau, um
sie selbst zu halten. Sie wollte etwas sagen, etwas fragen, doch dann waren die
Worte einfach weg und sie nahm noch ein paar weitere Schlucke zu sich.
    »Kein Wunder, dass du kraftlos bist«, murmelte die Krähenfrau.
    Eine andere, diesmal kleinere Holzschale
befand sich jetzt in ihren schwieligen Händen. Sie verzog den Mund, als
versuche sie, ein Lächeln zustande zu bringen, und begann einen merkwürdigen
Brei aus der Schale auf Berninas Stirn zu verteilen, dessen
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