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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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längst bei dir bedanken sollen. Es tut mir leid, dass ich noch
kein Wort darüber verloren habe. Danke, dass du da warst. Danke, dass ich heute
noch am Leben bin.«
    »Ja, ich war da.« Ein erneutes Lächeln, bei
dem die Frau Bernina nicht in die Augen blickte. »Sprechen wir einfach nicht
mehr davon.«
    Bevor Bernina noch einmal etwas erwidern
konnte, fing die Frau an zu singen, stieß ein paar verhaltene kehlige Laute
aus, ohne dass so etwas wie eine Melodie entstanden wäre.
    Zum ersten Mal dachte Bernina mit klarem Kopf
an das Mädchen mit dem hellblauen Kleid, an dessen sanftes Summen. In gewissem
Sinne war die Kleine ja ebenso für ihre Rettung verantwortlich wie die
Krähenfrau. Denn ohne das Mädchen hätte Bernina wohl gar nicht den Hof
verlassen, um in den Wald zu gehen.
    »Das kleine Mädchen«, sagte sie nach einer Weile mit unsicherer
Stimme zur Krähenfrau, die gleich noch beschäftigter mit ihrem Topf tat und
nichts darauf entgegnete.
    »Das kleine Mädchen«, wiederholte Bernina immer noch unsicher,
aber etwas lauter. »Hast du es auch bemerkt?«
    »Was für ein Mädchen?«, fragte die Frau, ohne aufzusehen.
    »Ein Kind in einem wunderschönen Kleid.«
    »Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst.«
    »Aber ich habe die Kleine gesehen. Sie hat ein Lied gesungen. Oder
zumindest gesummt. Du hast sie doch bestimmt auch gesehen, wenn du so nahe beim
Hof warst. Oder diese zarte Stimme gehört.«
    »Da war niemand«, beschied die Frau knapp.
    »Ich bin sicher, da war jemand.« Obwohl Bernina auf einmal alles
andere als sicher war. Ganz kurz nur hatte sie einen Blick auf das Mädchen
werfen können. Sehr kurz. Zu kurz?
    Hatte sie sich einfach geirrt? Der Gedanke an das Kind löste einen
merkwürdigen Schauer auf ihrer Haut aus, und sie hielt es für besser, das Thema
einfach zu beenden und sich davon vorerst nicht mehr verrückt machen zu lassen.
    »Was kochst du?«, wollte sie deshalb von der Krähenfrau wissen,
wohl einfach nur um etwas Sachliches anzusprechen.
    »Eine Suppe aus Wurzeln. Sie wird dir vielleicht nicht schmecken,
aber gewiss sehr wohltun.«
    »Du bist so gut zu mir. Und so großzügig.«
    »Ach was, das ist doch gar nichts.«
    »Und ich weiß nicht einmal, wie ich dich ansprechen soll. Dein
Name – ich kenne ihn nicht. Ich glaube, niemand kennt ihn.«
    Die Frau sah auf, irgendwie verdutzt, als wäre sie so lange nicht
mehr mit ihrem Namen angesprochen worden, dass sie ihn selbst vergessen hatte.
    »Nenn mich einfach Cornix.«
    »Cornix? Das ist doch kein Name, oder?«
    Ein komisches, fast schüchternes Lachen. »Nein, das ist ein
lateinisches Wort für Krähe.«
    Nun war die Reihe an Bernina, verdutzt zu sein. Eine von allen
verlachte und gleichzeitig gefürchtete Frau, die allein in einer Waldhütte
lebte, sprach Latein?
    »Wie kommt es, dass du diese Sprache kennst?«
    »Ach …« Eine wegwerfende Handbewegung. »Bloß ein paar
einfache Brocken.«
    Bernina betrachtete sie mit offener Neugier. »Mir kommt es auf
einmal so vor, als wüsstest du noch viel mehr als lateinische Wörter.«
    »Ich bin die Krähenfrau, lassen wir’s dabei.«
    »Ja, das habe ich mich auch immer schon gefragt. Wieso
Krähenfrau?« Der Name war ihr bereits so lange ein Begriff, dass sie niemanden
jemals nach seinem Ursprung gefragt hatte.
    »Einfach so«, wich die Frau aus.
    »Weil du Krähen magst? Oder weil du Angst vor
ihnen hast?«
    Ein kurzes Auflachen. »Also, du stellst so viele Fragen, dass es
mir fast lieber wäre, du würdest wieder schlafen.«
    »Verzeih. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Aber ich dachte, ich
kann dich doch nicht Krähenfrau oder Cornix nennen.«
    »Warum denn nicht? Ich mag Cornix sehr gern. Ein schönes Wort.«
    Zum ersten Mal, seit Bernina am Morgen des Vortags von diesem
schönen Summen überrascht worden war, konnte sie wieder lächeln. »Also gut,
dann eben Cornix.«
    »Genug geplaudert. Jetzt gibt es etwas zu essen.«
    Die Krähenfrau hatte recht gehabt. Die Suppe schmeckte
schauderhaft, und dennoch fühlte Bernina, wie die heiße, sämige Flüssigkeit ihr
neue Kraft verlieh.
    Nach dem Essen reichte die Frau, die Cornix genannt werden wollte,
noch einen Tee, der Bernina mit Hitze durchfuhr. Die Kopfschmerzen ließen nach,
und sie spürte, wie sich überall an ihrem Körper Schweiß bildete. Sie sank
zurück auf ihr Lager aus Stroh und sah zu, wie Cornix sich mit geübten Händen
aus einigen löchrigen Decken eine zweite Schlafstelle richtete.
    »Ich habe dir also auch dein
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