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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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überall auf dem Boden. Dazu die Daunen aufgeschlitzter
Kopfkissen. Betten, Truhen und Wandbretter waren zerschlagen, Bilder von den
Wänden gerissen und zertreten worden.
    Vor dem letzten Raum, am Ende des Ganges, blieb Bernina kurz
stehen. Ein Blick durch den leeren Türrahmen zeigte ihr, dass es sich nicht um
ein Schlafzimmer handelte.
    Auch hier die Zeichen von Zerstörung, aber zur Einrichtung
gehörten diesmal mehrere große Regale. Und noch erstaunlicher: Bücher. Die
ausgerissenen Seiten und die verbogenen Rücken waren über den Boden verstreut
worden. Ein Gänsekiel lag in einer schwarzen Lache, die so eingetrocknet war
wie das Blut im Erdgeschoss des Hauses.
    Zögerlich und mit einiger Verwunderung betrat Bernina den Raum.
Die Vogts und ihre Leute waren Bauern, einfache Menschen, niemand auf dem Hof
beherrschte Lesen oder Schreiben. Und niemand hatte auch nur ein einziges Buch
besessen. Jedenfalls hatte Bernina das immer angenommen.
    Was waren das für Bücher? Wem hatten sie gehört?
    Bernina bückte sich und strich sanft mit der Hand über ein paar
zerknüllte Seiten, als könnte allein die Berührung dem Papier seine Geheimnisse
entlocken.
    Im nächsten Moment entdeckte sie eine Truhe, die in der hinteren
Ecke des Raumes umgekippt worden war. Noch immer etwas zögerlich, wie wenn sie
hier etwas Verbotenes tat, trat Bernina zu der Truhe, deren Inhalt auf den
Boden ausgeschüttet worden war. Sie kniete sich hin und griff wahllos nach den
Fetzen eines hellblauen Stoffes, den man anscheinend mit besonders großer Wut
zerrissen hatte, wie die ausgefransten Ränder zeigten.
    Ohne eine bestimmte Absicht zu haben, nur von
einer irgendwo in ihr aufkommenden Neugier getrieben, versuchte sie die
einzelnen Stoffstücke in ihrer ursprünglichen Form wieder zusammenzuführen.
Nacheinander legte sie sie neben sich ab, nachdem sie die Teile eines
zerstörten Stuhls beiseitegeschoben hatte.
    Zuerst hatte sie vermutet, bei dem Stoff handele es sich um eine
Art Umhang. Doch das war nicht der Fall. Was vor ihren Augen entstand, war eher
eine Flagge, wie auch mehrere Schlaufen am Stoffrand deutlich machten. Eine
schlichte Fahne, auf deren blauem Grundton zwei recht einfach gestaltete
Symbole übereinander abgebildet waren. Ein Schwert, dessen Spitze auf eine
Blume wies.
    Fast zärtlich strich Bernina über die Stofffetzen. Ein
merkwürdiges Gefühl erfasste sie. Und auch wenn es keine Erklärung dafür gab,
kam es ihr erneut so vor, als wäre sie dabei, etwas Verbotenes zu tun.
    Unbewusst fiel ihr Blick auf die umgestülpte
Truhe. Erst jetzt schenkte sie den kunstvollen Schnitzereien Beachtung, mit
denen das schwere Holz verziert worden war. Tierfiguren wie Wolf, Bär und
Adler. Aber auch hier fand sich das Schwert mit der Blume.
    Beinahe ebenso unbewusst griff sie nach einigen Bögen Papier, die
verstreut herumlagen und wohl ebenfalls in der Truhe verborgen gewesen waren.
Ihre Augen wanderten über die geschriebenen Zeilen, über die Worte und
Buchstaben, und obwohl sie nicht lesen konnte, war ihr, als betrachte sie gerade
jemand Fremdes durch ein Schlüsselloch.
    Ihr fiel auf, dass nicht alle Blätter beschrieben waren. Manche
enthielten auch Skizzen. Sie nahm sich eine davon und beim Anblick der
Zeichnung fühlte sie, wie sich die feinen Härchen an ihrem Nacken aufrichteten.
Zu sehen war ein Mädchen.
    Ein kleines Mädchen mit langem Haar.
    Unfassbar, aber es war das Kind, das Bernina
zwei Tage zuvor gesehen zu haben glaubte, dessen Summen in ihren Ohren war.
    Es war keine sonderlich ausgeprägte Zeichnung. Feine Linien
ergaben die Umrisse, deuteten die Einzelheiten an. Jedes Mädchen hätte es sein
können, darüber war Bernina sich durchaus im Klaren. Und doch war ihr auf
rätselhafte Weise ebenso bewusst, dass es jenes ganz bestimmte Mädchen sein
musste, jenes Geschöpf, das sowohl aus Wirklichkeit als auch aus Einbildung
bestanden zu haben schien.
    Wie ertappt legte sie die Skizze rasch wieder fort.
    Und wieder hatte sie ein seltsames Gefühl. Als wäre etwas
versteckt in ihr und würde darum kämpfen, an die Oberfläche zu gelangen. Sie
hätte nicht sagen können, was das sein mochte, aber da war etwas. Vielleicht
Erinnerungen, Bilder, die einer anderen Zeit angehörten.
    Aus einem Impuls heraus ergriff Bernina erneut die Skizze, die das
Mädchen zeigte. Vorsichtig, wie um der Abbildung nicht wehzutun, faltete sie
das Blatt zusammen und schob es zwischen Kleid und Unterkleid.
    Warum sie das tat, war ihr
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