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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter
Autoren: Oliver Becker
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Bäumen bewachsene und toten Zweigen
übersäte Böschung türmte sich vor ihr auf. Das Summen wurde noch ein wenig
lauter. Es schien sehr nahe zu sein.
    Ganz unbewusst wurde Bernina plötzlich vorsichtiger. Sie zögerte
kurz, schlich dann gebückt die Böschung hinauf. Oben angekommen spähte sie
darüber hinweg, geradewegs in eine kleine natürliche Mulde, die sich
anscheinend wie von selbst in den Waldboden gegraben hatte.
    Darin hockte jemand. Das Summen schwebte noch in der Luft, doch
war plötzlich vollkommen verändert. Die Stimme klang nicht mehr jung, sondern
älter, wesentlich älter. Und die Melodie hatte rein gar nichts Angenehmes mehr.
Bernina wusste auf einmal nicht, ob sie geträumt hatte oder nicht. So
verschwindend kurz war der Blick gewesen, den sie auf das Mädchen hatte werfen
können. War es Einbildung gewesen? Konnte das sein? Und was war mit diesem kaum
zu erklärenden Gefühl, das sie in sich wahrgenommen zu haben glaubte. Alles nur
Einbildung?
    Denn in der Erdmulde saß nicht etwa das
Mädchen in Hellblau, sondern niemand anders als die Frau, die in der Gegend nur
die ›Krähenfrau‹ genannt wurde. Gehüllt in einen löchrigen Umhang hockte sie
da, gab mit ihren rissigen Lippen Laute von sich, die nichts mehr mit einer
schönen Kinderstimme zu tun hatten.
    Über die Krähenfrau waren etliche Geschichten im Umlauf. Es hieß,
sie sei verrückt, eine Hexe. Man lachte einerseits über sie, hatte aber auch
Angst vor ihr. Offenbar trauten die Leute ihr magische Kräfte zu, denn ihr
selbst gegenüber hielten sich alle mit Witzen oder Bösartigkeiten zurück. Viele
bekreuzigten sich, wenn sie ihr zufällig über den Weg liefen. Bernina
betrachtete sie noch immer kniend vom Böschungsrand aus. Während sie bei
anderen Abscheu auslöste und sich kein Mensch bei hellem Tage mit ihr abgab,
hatte Bernina der alten Frau immer wieder gern einen Apfel oder ein Stück Brot
zugesteckt. Zumindest als es ihnen allen auf dem Petersthal-Hof noch besser
gegangen war. Und die Krähenfrau war ihr dankbar gewesen. Manchmal allerdings
hatten ihre funkelnden Augen mit einem äußerst sonderbaren Ausdruck auf Bernina
gelegen, einem nicht zu deutenden Flackern, woran Bernina oft noch denken
musste, wenn sie sich abends bereit machte für den Schlaf.
    Von der Frau huschten Berninas Gedanken
zurück zu dem Mädchen. War es tatsächlich nichts als eine Sinnestäuschung
gewesen? War Bernina etwa einem Geist begegnet? Sie fühlte eine Gänsehaut, die
nicht durch die Kälte des Waldes entstanden war.
    Auf einmal verebbte das Gesumme in der Kehle der Krähenfrau. Sie
drehte sich um, und wie schon so oft zuvor fing ihr Blick Bernina ein. Als
hätte sie gewusst, dass diese in der Nähe war und sie beobachtete.
    Sie sahen sich an, Bernina überrascht, die Krähenfrau
offensichtlich alles andere als das. Ein Moment fast übermächtiger Ruhe
entstand. Der ganze Schwarzwald wirkte wie erstarrt, die Welt schien
stillzustehen.
    Und plötzlich brach unbeschreiblicher Lärm los.
    Bernina erzitterte und riss den Kopf zurück in die Richtung, aus
der sie gekommen war. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie weit sie sich vom
Petersthal-Hof entfernt hatte. Sie drehte sich um, ohne noch einen Blick für
die Frau übrig zu haben, rannte los und verlor dabei die Decke um die
Schultern.
    »Bleib hier!«, vernahm sie in ihrem Rücken die Stimme der Alten,
wie sie sie nie zuvor gehört hatte. Eindringlich und mit einer Schärfe, die gar
nicht zu der Frau zu passen schien. Doch sie ließ sich nicht aufhalten.
    Hufgetrappel und Gewieher von Pferden, Schreie, krachende Schüsse
aus vielen Musketen. Der Lärm, der über das Tal hereingebrochen war, wütete
immer lauter, immer gewaltiger.
    Bernina lief schneller durch den Wald,
zwischen den dick wie Wolle wabernden Nebelschwaden hindurch, sie wich Bäumen
aus, sprang über deren Wurzelstränge hinweg, bis die dunklen Stämme wieder die
Sicht auf die Gebäude des Hofes freigaben. Hinter einigen noch winterlich
nackten Johannisbeersträuchern sank sie auf die Knie. Was sich ihren Augen bot,
war ein Bild des Grauens.
    In all den vielen Jahren der Schlachten und
Kämpfe war der versteckt in seinem Tal liegende Petersthal-Hof immer verschont
worden, fast wie durch ein Wunder. An diesem Morgen jedoch zog der Krieg umso
gewaltiger, wie ein Orkan, über den Hof und seine Bewohner hinweg. Wie gelähmt
sah Bernina die Reiter, die auf ihren Pferden zwischen den Gebäuden hin und
herpreschten, mit kalter Grausamkeit
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