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Das Geheimnis der Apothekerin

Das Geheimnis der Apothekerin

Titel: Das Geheimnis der Apothekerin
Autoren: Julie Klassen
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erreicht hatte, den – zugegeben nur mäßig hohen – Grey's Hill. Als sie sich vornüberbeugte, um Atem zu schöpfen, fiel ihr das lange, rotbraune Haar über die Schultern. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, es ordentlich aufzustecken, obwohl sie wusste, dass sie das hätte tun sollen, vor allem jetzt, da sie nun doch schon achtzehn Jahre alt war.
    Sie richtete sich wieder auf und genoss den Ausblick über Pewsey Vale mit seinen Kreidehügeln, den wenigen Bäumen und dem Abbild eines weißen Pferdes in der Ferne auf dem Kamm zwischen Milk Hill und Walker's. Sie hatte gehört, dass der Pfarrer von Alton Barnes häufig mit seinem Teleskop zum Adam's Grave, dem Hügelgrab oben auf dem Walker's Hill, stieg und von dort sogar die ferne Salisbury Cathedral sehen konnte. Lilly wünschte sich brennend, selbst einmal auf diesen Hügel steigen zu können, am liebsten an einem Sonntag nach dem Gottesdienst, wenn sie den ganzen Nachmittag für sich hatte. Sie hätte zu gern die Kirchturmspitze von Salisbury gesehen, ja sie würde fast alles darum geben, diesen Ort – und noch zahlreiche andere – mit eigenen Augen sehen zu können. Sie fragte sich, welche Anblicke und Freuden ihre Mutter wohl im Augenblick genießen mochte und wo sie wohl war. Sie war jetzt seit drei Jahren fort.
    Lilly blickte auf das Dorf am Fuß des Hügels hinunter, mit seinem uralten Friedhof, den stillen Gassen und dem rechteckigen Dorfanger, auf dem lauter kleine Punkte zu sehen waren – weidende Schafe. Wie friedlich Bedsley Priors doch aussah! Und wie klein und unbedeutend.
    Als ihre Mutter damals verschwand, war Lilly von einer Flut von Gefühlen überwältigt worden, einer Mischung aus Fassungslosigkeit, Kummer und Schuldgefühlen. Sie war sich ganz sicher, dass sie, Lilly, irgendetwas gesagt oder getan haben musste, was ihre Mutter aus dem Haus getrieben hatte. Dennoch spürte sie zugleich ganz tief drinnen so etwas wie ein verbotenes Prickeln, eine Faszination, für die sie sich schämte. Sie schämte sich, aber trotzdem war irgendetwas anders geworden. Veränderung gebar Veränderung, das wusste sie, und inzwischen sehnte sie sich geradezu danach. Obwohl Lilly noch immer inständig darum betete, dass ihre Mutter zurückkehren möge, wusste sie doch genau, dass ihr Leben ohne diesen Einschnitt im alten Trott weitergegangen wäre. Sie wäre für immer gefangen gewesen, begraben in der Arbeit in einem unbedeutenden Geschäft in einem unbedeutenden Dorf. Und das, so wusste Lilly genau, wäre ihr niemals genug gewesen.
    Sie seufzte tief auf und machte sich an den mühseligen, holprigen Abstieg, zurück zu den nie endenden Pflichten einer Apothekerstochter.
    Vor dem Pfarrhaus verlangsamte sie ihren Schritt zu einem gemächlichen Schlendern und ging am Fleischerladen und am Krämer vorbei zum Kaffeehaus. Dort erspähte Mary sie durch das Fenster und bedeutete ihr, kurz zu warten. Lilly blieb stehen. Ihre Freundin kam an die Tür – ihre Freundin Mary, die seit fast einem ganzen Jahr keinen weiteren Anfall mehr gehabt hatte, wofür alle dankbar waren.
    »Morgen, Lill.« Mary drückte ihr ein warmes, in Papier gewickeltes Päckchen in die Hand. »Das muss sein. Du musst doch was essen nach deinem langen … ähm … Spaziergang.« Mary lächelte wissend, ihre leuchtend blauen Augen unter den rotblonden Brauen strahlten.
    Lilly nahm das Gebäck lächelnd entgegen. »Danke. Johannisbeere?«
    »Was sonst? Jetzt lauf schon. Ich sehe dich später.«
    Lilly knickste neckisch und ging über den Hof zum Laden ihres Vaters. Dabei fiel ihr auf, dass das Schild mit der Apothekerrose und der Aufschrift Charles Haswell, Apotheker schäbig aussah und dass die weiße Farbe an der Einfassung des vielfach geteilten Bogenfensters bereits abzublättern begann. Sie musste Vater sagen, dass das Holz einen neuen Anstrich brauchte.
    Einen Augenblick lang stand sie einfach nur da und schaute durch das Ladenfenster, wie es ein Kunde tun mochte, während sie das süße Brötchen verspeiste, das Mary ihr gegeben hatte.
    Drinnen, auf dem Fensterbrett, stand der große, kunstvoll gearbeitete Apothekermörser ihres Großvaters mit dem Haswell-Familienwappen, umgeben von farbigen Ballonflaschen mit fertig zubereiteten Arzneien. Sie trugen goldfarbene Aufschriften wie Royal English Drops , Gaskoins Pulver , Echte Venezianische Melasse und viele andere mehr.
    Über drei Wände des Ladens zogen sich deckenhohe Regale, angefüllt mit langen Reihen blau-cremefarbener Gefäße aus
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