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Mein digitales Ich

Mein digitales Ich

Titel: Mein digitales Ich
Autoren: Ariane Christian u Greiner Grasse
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1 . Prolog: Ein Leben in Daten
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    Es ist Sonntagmorgen, 3:23 Uhr. John schläft. Und träumt. Seine Hirnwellen ähneln dem Muster eines kleinen Erdbebens, die bunten Kurven der Live-Visualisierung seiner Hirnaktivität wandern hektisch auf und ab. Auch sein Herz schlägt kräftiger, es pumpt Blut im 55er-Takt durch seinen schlafenden Körper, typisch für die sogenannte REM-Phase. Vor einer halben Stunde lag sein Puls noch bei 45 Schlägen in der Minute, ein durchschnittlicher Ruhepuls, der auf einen entspannten Schlaf deutet. Im Monatsvergleich schneiden seine Schlafdaten sehr gut ab, sie sind sehr viel besser als noch vor sechs Wochen. Der Health-Monitor zeichnet nun endlich wieder Werte im grünen Bereich auf. Der Geräuschpegel, dem John ausgesetzt ist, liegt im Tagesdurchschnitt derzeit knapp zehn Dezibel unter dem Niveau der vergangenen sieben Tage, das zeigt eine Analyse der Mikrofondaten seines Mobiltelefons, jedes Geräusch wird so erfasst. Auch die Luftqualität ist außerordentlich gut, das bescheinigen die Live-Daten der Immissionsmessnetze, die ebenfalls als Berechnungsgrundlage in den Health-Monitor einfließen. Solche positiven Werte erreichte John das letzte Mal vor 142 Tagen. Er wird froh über die guten Ergebnisse sein, denn seit knapp einem Monat steigen seine Krankenkassenbeiträge. Die körperbezogenen Daten waren in den vergangenen Wochen soschlecht, dass die Gefahr eines bevorstehenden Schlaganfalls um 1,4 Prozentpunkte anstieg, die Wahrscheinlichkeit für depressive Schübe nahm sogar um 8,3 Prozent zu. Man könnte seinen derzeitigen Wochenendausflug ins Grüne also durchaus als eine technisch vermittelte Zwangspause bezeichnen. Das Gesundheitsprogramm auf seinem Telefon motivierte ihn wochenlang, mehr Sport zu treiben, erstellte Ernährungspläne und machte Vorschläge für Kurangebote in der Nähe. Vergeblich. Er ignorierte die Hinweise so lange, bis auf seinem Computerbildschirm eine Nachricht seines Hausarztes erschien.

    Bitte orientieren Sie sich an den Vorschlägen des Gesundheitsmonitors. Aufgrund Ihrer negativen Datenbasis wird Ihr aktueller Status an Ihre Krankenkasse übermittelt. Das hat steigende Beiträge zur Folge. Für eine ausführliche Analyse Ihres aktuellen Health-Ranks stehe ich Ihnen gerne per Videochat zur Verfügung.
    4:12 Uhr. John dreht sich im Schlaf auf die Seite. Er wird sich an diese Bewegung später nicht erinnern, ebenso wenig wird er wissen, wie oft er geträumt hat, wie entspannt oder unruhig seine Nacht war. Er wird lediglich ein vages Bauchgefühl verspüren, sich entweder ausgeruht oder gerädert fühlen. Der Health-Monitor macht seine unbewussten und unterbewussten Zustände sichtbar. Ein kleines Stirnband misst per EEG-Verfahren die elektrische Aktivität seines Gehirns. Die Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche werden an die Health-Monitor-App seines Telefons übertragen, das neben ihm auf dem Nachttisch liegt. Die Daten lassen Rückschlüsseauf Johns Schlafzyklen zu. In dem Stirnband befindet sich außerdem ein Bewegungssensor, der jedes Drehen und Wenden während der Nacht festhält. So kann im Nachhinein die genaue Einschlafzeit ermittelt werden. John schläft demnach seit sechs Stunden und lag zuvor etwa eine halbe Stunde lang wach im Bett. Er hat bisher dreimal geträumt und siebenmal die Schlafposition verändert. Vor einer Woche drehte er sich durchschnittlich 26-mal pro Nacht – ein nachträglicher Beweis für einen unruhigen Schlaf, der sich auch beim Aufwachen in einem matten Gefühl niederschlug. Für seinen aktuellen Aufenthaltsort, den der GPS-Sensor im Mobiltelefon automatisch ermittelt, sind gleich mehrere Informationen abrufbar: Freunde, die sich in der Nähe aufhalten, Einkaufsmöglichkeiten, Kulturangebote, Verkehr oder Wetter beispielsweise. Bei den Koordinaten 52 119 916,13 920 256 sind 21 Grad Lufttemperatur zu erwarten, und es herrscht ein mittlerer Luftdruck. Allerdings stehen kurzfristig Wetteränderungen bevor. Die stellen in der Regel einen hohen Stressfaktor für den Organismus dar, denn sie zwingen ihn, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Der Health-Monitor legt einen Datensatz für Biotropie an, Johns Wetterfühligkeit wird erfasst.
    6:00 Uhr. Ein Gewitter zieht auf – die Fenster im Schlafzimmer schließen automatisch, sobald es zu windig wird, zu stark regnet oder der Luftdruck rapide fällt. Draußen prasselt der Regen gegen die Scheiben. Da die Fenster geschlossen sind, sinkt die Luftqualität im Raum
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