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Das Geheimnis der Äbtissin

Das Geheimnis der Äbtissin

Titel: Das Geheimnis der Äbtissin
Autoren: Johanna Marie Jakob
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sofort geholt hatte. Ich sah, dass er tot war, das ist alles. Aber es gab Gerüchte. Sie hielten sich hartnäckig während unseres Ritts nach Akkon. Später verstummten sie, weil fast alle Augenzeugen an der Seuche starben.«
    »Was für Gerüchte?«
    »Es hieß, es wäre Blut an seinem Wams gewesen, als sie ihn aus dem Wasser zogen.«
    Sie nahm einen langen Schluck aus dem Weinkrug. »Wie ist der junge Friedrich gestorben?«
    »Das weiß ich nicht. Er hat mir in Akkon die Freiheit geschenkt und mir empfohlen, auf einem Schiff, das erkrankte Ritter nach Hause bringen sollte, als Arzt anzuheuern.«
    »Du bist also ein freier Mann?«, fragte sie.
    Er nickte. »Sonst wäre ich gewiss nicht hier.«
    Dann begann sie ihre Geschichte. Als sie endete, hatte der Mond die Kronen zweier Apfelbäume überwunden. Die hellen Flammen waren von einem Glutbett abgelöst worden, das intensive Wärme ausstrahlte. Silas hatte sie nicht unterbrochen. Auch jetzt schwieg er lange und starrte vor sich hin. Als er sie schließlich ansah, glaubte sie Trauer in seinen Augen zu erkennen.
    »Du hast den Kaiser geliebt«, stellte sie fest.
    Er neigte den Kopf, silbrig glänzende Haare verdeckten sein Gesicht. »Er hat mich nie spüren lassen, was ich war.«
    »Und doch ist ihm nie in den Sinn gekommen, dir die Freiheit zu geben«, begehrte sie auf.
    »Er hat einmal zu mir gesagt: ›Ein Sklave ist nur, wer sich selbst dazu macht.‹«
    Sie schüttelte den Kopf, schwieg jedoch. Silas stand auf und holte frisches Holz. Erst als die ersten Flammen an der Rinde entlangzüngelten, sagte er: »Ihr habt recht, Judith. Ihr könnt nicht ins Kloster zurückkehren.« Er hockte sich vor ihr nieder und sah ihr ernst in die Augen. »Was habt Ihr Euch nur dabei gedacht, diese verfluchte Geschichte gravieren zu lassen?«
    »Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass all das Unrecht einfach vergessen wird. Isabella ist dafür gestorben. Nun auch der Kaiser selbst.«
    »Und wenn Ihr Pech habt …« Er beendete den Satz nicht, aber sein Ton ließ keine Zweifel offen, was er meinte.
    »Sie werden den Sarg nicht finden. Erst wenn die Säule ein neues Fundament erhält, wird dort gegraben werden.«
    »Solange sie die Kiste nicht haben, suchen sie nach Euch!« Blanke Sorge sprach aus seinem Blick, der sich in den ihren senkte. Sie verlor sich in den Tiefen seiner Augen und glaubte einen Moment lang zu fallen.
    »Ich gehe mit dir.« Der Satz zog mit dem Rauch gen Himmel und klang in der kühlen Nachtluft so unumstößlich, dass sie beinahe ein Amen angefügt hätte.
    Er fuhr auf, als wollte er fliehen. »Judith, wie stellt Ihr Euch …«
    Sie griff nach seinen Händen und hielt ihn fest. »Silas! Hör mir zu! Ich bin nicht mehr die junge Grafentochter, deren Vater bestimmt, welchen Weg sie einschlägt. Ich bin eine entlaufene Nonne, weiter nichts. Und du bist kein Sklave mehr. Du bist ein freier Mann. Du nennst ein Maultier dein Eigen, einen Kräuterkasten und eine Arzneitasche. Ich dagegen besitze nur die Kleider, die ich auf dem Leibe trage.«
    In seinen Augen spiegelte sich der Zwiespalt seiner Gefühle. Glomm zunächst Zweifel darin, sah sie kurz darauf Erleichterung und Freude aufleuchten. Am Ende ihrer eindringlichen Worte breitete er endlich die Arme aus und zog sie an sich. Keine Flamme konnte solche Wärme spenden …
    Trauer und Entzücken, Angst und Euphorie, widerstreitende Empfindungen fachten die Leidenschaft an wie der Wind einen Waldbrand im heißen August. All die Jahre, in denen sich einer nach dem anderen gesehnt hatte, in denen verdrängt wurde, was aussichtslos schien, schoben sich jetzt ins Bewusstsein und forderten schließlich ihr Recht. Vergessen geglaubte Gefühle bahnten sich einen Weg aus den hintersten Winkeln der Herzen und erlaubten kein Ausweichen, kein Verleugnen. Und doch gaben sie den beiden genug Muße, den Leib des geliebten Menschen neu zu entdecken und das uralte Spiel von vorn zu beginnen. Der schmale Mond streifte etliche weitere Apfelbaumkronen, bevor sie sich erschöpft umklammerten und einschliefen.
    Das durchdringende Gekreisch eines Eichelhähers ließ Judith hochschrecken. Hellgraue Dämmerung hing über den taufeuchten Obstbäumen. Die Glut des Feuers lag unter einer weißen Ascheschicht begraben. Die wollene Decke fühlte sich klamm an, doch ihr war nicht kalt. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so warm und geborgen gefühlt zu haben. Sie lauschte auf den Atem des Mannes neben sich. Auch er schien wach zu
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