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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe
Autoren: Hélène Grémillon
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Absender auf den Umschlägen stand, konnte ich ihm seine Briefe nicht zurückschicken. Es gab nicht mal eine Unterschrift. Seine Mutter nannte ihn »Louis«, gut, aber »Louis« wie?
    Waren es überhaupt Briefe? Sie sahen eigentlich nicht so aus: kein »Mademoiselle« oder »Chère Camille« als Anrede. Kein Ort, kein Datum im Briefkopf. Und als Krönung schien sich dieser Louis an niemanden zu richten.
    Das Klingeln des Telefons ließ mich zusammenfahren. Wer rief mich wohl mitten in der Nacht an?
    Es war Pierre.

    Ich hatte Mühe, meinen Bruder hinter dieser dünnen Stimme wiederzuerkennen, die mich fragte, ob mir bewusst sei, dass wir Waisen waren. Dieses Wort riss alles andere mit sich. Er konnte nicht schlafen und bat mich zu kommen. Ob ich ihm Zigaretten mitbringen könne?
    Natürlich.
    Es war nicht der Moment, ihm Vorhaltungen zu machen. Außerdem hatte ich auch das Bedürfnis zu rauchen, und die Schachtel, die die letzte sein sollte, hatte ich am selben Morgen weggeworfen.

    Es sind nicht die anderen, die uns die schlimmsten Enttäuschungen bereiten, sondern der Zusammenprall der Wirklichkeit mit unserer überschwänglichen Phantasie.
    Annie und ich legten den Weg von der Schule zum Kurzwarenladen immer gemeinsam zurück. Wir gingen nicht gleichzeitig los, aber die Entfernung, die uns trennte, verringerte sich unterwegs. Der Gang desjenigen, der vorn war, wurde unmerklich langsamer, während sich der des hinteren ebenso unmerklich beschleunigte, bis wir beide auf gleicher Höhe waren.

    Jahre später allerdings, am Tag unseres Wiedersehens – am 4. Oktober 1943 in Paris –, würde Annie lauthals lachen und mir versichern, ich hätte immer beide Rollen eingenommen, sie also entweder eingeholt oder mich einholen lassen. Sie jedenfalls habe ihr Tempo nie verändert, Ehrenwort.
    Ich versuchte nicht, mich zu verteidigen, und gab zu, dass ich für nichts auf der Welt auf diese gemeinsamen Wege verzichtet hätte, die ich insgeheim unsere »Liebesspaziergänge« nannte.
    Worte dienen oft dazu, das Wesen der Dinge zu verschleiern.
    Natürlich hätte ich lange auf uns gehofft, fuhr ich fort. Aber gut, es sei anders gekommen, sie sei inzwischen sicher schon verheiratet, mit zwanzig Jahren sei das normal. Ich
hatte den Ring an ihrem Finger gesehen. Ich spielte eine Rolle. Ich spielte den Mann, der einer Frau nicht hinterherläuft, der nicht mehr hofft. Den Mann, der einer Frau keine Angst macht.
    Als Kind hatte ich nie zu irgendwelchen Ausflüchten gegriffen, um sie an mich zu binden, an jenem 4. Oktober 1943 aber, während ich auf den Boden starrte, um ihrem Blick auszuweichen, hörte ich mich genau das Gegenteil von dem sagen, was ich dachte. Ich öffnete ihr liebenswürdigerweise den Weg, mir ohne jede Rücksicht alles mitzuteilen, was sie wollte. Wie ging es ihr? War sie glücklich?
    Annie zögerte lange und antwortete mir dann seltsamerweise mit einem verwirrenden Geständnis.
    »Eins muss ich dir sagen, Louis: Du warst immer der Erste. Der Erste, der mich geküsst hat. Der Erste, der meine Wange, meine Brust gestreichelt hat. Der Erste, der wusste, dass ich unter dem Rock manchmal nichts anhatte.«
    Annie erinnerte mich an all diese ersten Male. Sie wusste es noch viel besser als ich.
    »Warum hast du mir das nie gesagt?«
    Sie sah zu mir auf. »Warum soll man einem Mann sagen, dass er der Erste ist? Sagt man dem Zwölften, dass er der Zwölfte ist? Oder dem Letzten, dass er der Letzte ist?«
    Ich wusste nichts zu antworten.
    Hoffte sie, indem sie ihre Erinnerungen ausspuckte, dass ich ihr alles verzieh, was nie zwischen uns gewesen war?
    Ich sprach davon, wie sie sich verändert hatte, als sie anfing, Madame M. zu besuchen.
    Annie sprang auf, als würde unsere Nähe sie plötzlich stören. Sie bot mir Zichorienkaffee an und entschuldigte sich, dass sie wegen der Einschränkungen keinen richtigen
Kaffee mehr habe, auch keinen Zucker. Sie war nervös, riss alle Schränke auf, als wüsste sie nicht recht, was sie tat.
    Die Wohnung war winzig. Ich sah zu, wie sich ihre nackten Füße auf den wenigen Quadratmetern bewegten. Ihre Küche – eine Spüle und ein kleiner Kocher – war neben dem Bett, zum Glück, denn wenn sie auch nur eine Sekunde aus dem Zimmer gegangen wäre, hätte ich an ihrer Anwesenheit gezweifelt.
    Drei Jahre, ohne sie zu sehen, drei Jahre ohne die geringste Nachricht von ihr. Nicht einen Moment hatte ich mir vorgestellt, sie könne wie ich in Paris wohnen. Ich sah ihre Fingernägel mit dem
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